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Konolfingen - Die Fabrik, die Konolfingen zum Dorf machte

Quelle
Berner Zeitung BZ

1892 eröffnet die Berneralpen-Milchgesellschaft in Konolfingen ihre erste Fabrik – und läutet damit einen gewaltigen Aufschwung ein. Die 125-jährige Geschichte des Werks beginnt mit einer Erfindung und einer Epidemie.

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Kanne für Kanne: Milchannahme um 1915, damals noch Handarbeit. Heute verarbeiten Maschinen 260'000 Liter am Tag. (Bild: zvg)
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Arbeiterinnen stellen Dosen für die Kondensmilch her. (Bild: zvg)
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Landidylle, erste Häuser, die Fabrik (rechts). (Bild: zvg)
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Heute: Dorfleben, viele Häuser, der Weltkonzern (rechts). (Bild: Susanne Keller)
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Cholera und keimfreie Milch. Was die beiden verbindet? Ohne sie gäbe es wohl kein Konolfingen, kein Dorf am Tor zum Emmental. Noch im 19. Jahrhundert liegen weite Teile der Region in einem unwirtlichen Sumpf. Moos und Morast machen Landwirtschaft nahezu unmöglich. Zwar laufen ab Mitte des Jahrhunderts Bestrebungen, die Gegend trockenzulegen. Eine Bahnlinie ist geplant.
 

Konolfingen aber bleibt zunächst eine Ansammlung vereinzelter Bauernhöfe. Bis, ja bis eine Choleraepidemie sowie die Erfindung der sterilisierten Milch das Schicksal der gesamten Region verändern – für immer.

Die Tüftler und der Pionier

In Deutschland tüfteln Wissenschaftler bereits länger. Ihr Ziel: Milch länger haltbar zu machen. 1890 gelingt der Durchbruch. Ein Chemiker in Leipzig wendet das Verfahren erstmals erfolgreich an. Praktisch zeitgleich kämpft der Walliser Hotelier Cäsar Ritz in Südfrankreich mit den Folgen der Cholera. Miserable Hygienezustände führen dazu, dass die Seuche in seinen Häusern an der Riviera um sich greift, Gäste fernbleiben.

Ritz, der spätere Gründer der gleichnamigen Hotelkette, verordnet seinen Betrieben in Cannes und Biarritz deshalb ra­dikale Sauberkeitsvorschriften, auch punkto Lebensmittel. Diese neuen Standards werden ihn dereinst zu einem Schwergewicht der Hotellerie machen. Reinlichkeit, fortan ein Markenzeichen von Ritz’ Hotels. Eine Frage bleibt indes zunächst ungelöst: Wie lässt sich Milch haltbar ­machen?

Die Verbindung zu heute
 

Ritz nimmt sich der Sache selbst an. Die Technologie dazu findet der Hotelier in Deutschland: 1891 sichert er sich zusammen mit anderen Investoren die schweizerischen Patente zur industriellen Herstellung von keimfreier Milch.
 

Am 2. April 1892 gründet er in Bern die Berneralpen-Milch­gesellschaft. Jenes Unternehmen, das bis heute untrennbar mit Konolfingen verbunden ist. Einer Gemeinde, die es da noch gar nicht gibt. Die erst Jahre später entsteht, aus der Fusion umliegender Gemeinden – und auf Druck der Milchgesellschaft.

Ein unschlagbares Angebot
 

Eine dieser Gemeinden ist Stalden. Auf deren Boden baut die Milchgesellschaft ihre erste Fabrik. Hier steht sie noch heute. Mitten im trockengelegten Moos. Verantwortlich dafür ist primär ein Mann: Gustav von May, Berner Patrizier, Schlossherr von Hünigen, Gemeindepräsident von Stalden.

Er lockt 1892 mit einem unschlagbaren Angebot: «Wir halten euch einen prächtigen Bauplatz bereit, wir haben reichlich Milch, wir werden euch Wasser verschaffen, so viel ihr wollt. Die Burgdorf–Thun-Bahn wird bald kommen, dann wird Konolfingen Eisenbahn-Knotenpunkt.»
 

Das Syndikat um Cäsar Ritz beisst an. Im November des selben Jahres steht das erste Werk. Es ist der Beginn einer bemerkenswerten Entwicklung: In den nächsten 125 Jahren entsteht rund um die Fabrik nicht bloss ein ganzes Dorf, der Kern des heutigen Konolfingens.
 

Die ­Berneralpen-Milchgesellschaft steigt in dieser Zeit zum Weltkonzern auf. Und gehört heute zum Firmenimperium des Lebensmittelgiganten Nestlé. Im Rahmen des 125-Jahr-Jubiläums blicken wir auf diese Geschichte zurück. Die keine Geschichte wäre, ohne Cholera in Südfrankreich und Tüftlern in Deutschland.

 

Die Fabrik: Kleinbetrieb, Grosskonzern

Im November 1892 nimmt die Fabrik in Stalden den Betrieb auf. Vier Mitarbeiter, Tageslohn: 2.50 Franken. Auf zwei Prototypen sterilisieren die Angestellten Milch aus der Region. Der Anfang verläuft harzig. Die Abnehmer fehlen. Einzig ein paar Ärzte und Apotheker verschreiben das neue Produkt. Überschüssige Milch wird zu Butter verarbeitet: ein Verlustgeschäft.

Der Export soll Abhilfe schaffen. Doch auch der rechnet sich zunächst nicht. Die Milch wird bis dato in Glasflaschen transportiert. Die sind anfällig, zerbrechen oft und sorgen so für Mehrkosten.

Eine neue Technologie bringt die Lösung: Ab 1894 sterilisiert das Unternehmen die Milch in Konserven. Es ist der Befreiungsschlag für das klamme Unternehmen. 4 Jahre später folgt das Milchpulver, 1900 der erste Gewinn, 1903 die Stalden-Creme. Der Aufschwung endet abrupt. Mit der Urkatastrophe.


Der Erste Weltkrieg. Rohmilch ist Mangelware. Die Kriegswirren bringen den Export fast zum Erliegen. Viele Mitarbeiter müssen an der Grenze Dienst tun. Das Unternehmen reagiert, indem es in den verfeindeten Kriegsländern Frankreich und Deutschland je eine Tochtergesellschaft gründet.

Diese werden später in einer Holding zusammengefasst. Der Ursina AG. Nach Kriegsende folgt eine kurze Phase der Entspannung. Bis 1929 die Weltwirtschaftskrise auch die Berneralpen-Milchgesellschaft mit voller Wucht trifft.

Der weltweite Milchabsatz bricht weg. Das Unternehmen weicht auf Gemüse- und Früchtekonserven aus. Für viele Menschen in der Region bedeutet dies in den Krisenjahren: Arbeit, ein kleines Auskommen. Die Konservenabteilung stellt den Betrieb 1950 ein, kurz bevor in Konolfingen die weltweit erste UHT-Milch abgefüllt wird. Schliesslich steigt der Weltkonzern ein: 1971 schluckt Nestlé die Ursina AG – und übernimmt das Werk in ­Konolfingen.


Standort heute: 260'000 Liter Milch – pro Tag

Die Übernahme der Fabrik durch Nestlé markiert einen Epochenwechsel. 1971 steigt der Nahrungsmittelgigant ein. 1974 gründet er vor Ort ein internationales Forschungszentrum. Heute entwickeln dort 300 Spezialistinnen und Spezialisten Milchprodukte sowie Säuglings- und Gesundheitsnahrung. Weitere 600 Personen sind in der angrenzenden Fabrik beschäftigt.
 

Die funktioniert mittlerweile voll automatisiert. Von der Romantik vergangener Tag, wie sie Fritz Rüegsegger in seiner Erinnerung an vergangene Tage beschreibt, ist nicht mehr viel geblieben. Dafür hat der Konzern im grossen Stil investiert. Allein in den letzten 10 Jahren über 600 Millionen Franken.

Die Maschinen in der Fabrik verarbeiten heute täglich 260'000 Liter Rohmilch, welche 550 Bauern aus dem Emmental und dem Mittelland liefern. Einen grossen Teil der Milch verarbeiten die Mitarbeiter zu Babynahrung.

Laut dem Unternehmen werden so weltweit eine Million Kleinkinder ernährt – pro Tag. Das Hauptaugenmerk liegt mittlerweile komplett auf dem Export: Die Produkte gehen von Konolfingen aus in über 90 ­Länder.

 

Konolfingen: Aus dem Nichts
 

Die Eröffnung der Fabrik hat Auswirkungen auf die gesamte Region. Die Berneralpen-Milchgesellschaft kauft bei lokalen Bauern ein. Und schafft Arbeitsplätze in Stalden und im nahe gelegenen Gysenstein, wie die Gemeinden damals noch heissen.

 

Die neue Zugverbindung zwischen Thun und Burgdorf heizt den jungen Wirtschaftsmotor zusätzlich an. Es entsteht eine Sogwirkung – rund um Fabrik und Bahnhof wächst ein komplettes Dorf heran, inklusive Kirche, Freibad, Wohnhäusern: das Zentrum des heutigen Konolfingens.
 

Die Gemeinde Konolfingen wird schliesslich 1933 gegründet. Als die beiden Nachbargemeinden Stalden und Gysen­stein fusionieren. Seither ist Konolfingen stetig gewachsen. Nach der Fusion leben rund 3000 Menschen auf Gemeindeboden, Ende 2015 sind es bereits 5225. Die Fabrik ist und bleibt der mit Abstand grösste Arbeitgeber im Ort.

 

Die Ausstellung

Das Dorfmuseum alter Bären in Konolfingen veranstaltet ab heute Samstag eine Sonderausstellung. Anlass ist das 125-Jahr-Jubiläum der Fabrik. Das Team des Vereins Alter Bären hat dafür Zeitzeugnisse, Fotografien, Produkte aus der Gründerzeit bis heute zusammengetragen. Ergebnis ist eine detailgetreue Dokumentation der letzten 125 Jahre. Die Texte in dieser Ausgabe der Berner Zeitung basieren zu einem grossen Teil auf der Recherche des Vereins.
 

Sonderausstellung: 125 Jahre Fabrik Konolfingen. Dorfmuseum Alter Bären, Burgdorfstrasse 85, Konolfingen. Samstag, 20. Mai, bis Sonntag, 28. Mai 2017. Jeweils von 10 bis 17 Uhr.

[i] Siehe auch "Nestlé Konolfingen: "So bisch nid lang da" vom 20.5.2017


Autor:in
Cedric Fröhlich, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 20.05.2017
Geändert: 20.05.2017
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