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Fiona Hutmacher in Griechenland: Die Etappe nach dem Ziel
Rund 2‘000 Kilometer legte die Gysensteinerin Fiona Hutmacher diesen Herbst mit dem Fahrrad zurück und sammelte dabei Geld für eine Flüchtlingsorganisation. Seit ihrer Ankunft in Griechenland ist die Rechtswissenschaftlerin als Volontärin für eine NGO unterwegs. Auf BERN-OST berichtet sie über das bisher Erlebte.
Während eines Monates sass ich täglich auf meinem Velo und verbrachte 24 Stunden draussen an der frischen Luft. Nun steht mein Fahrrad seit über zwei Monaten im fünften Stock im Gang vor der Tür unseres Appartements und kriegt nur noch selten Bewegung. Zusammen mit 12 Personen aus aller Welt volontiere/arbeite ich hier in Thessaloniki für eine NGO namens Mobile Info Team. Vergleiche ich die Herausforderungen meiner Velotour mit meinen jetzigen Aufgaben, kommen mir meine damaligen „Probleme“ nun auf einmal „bubi-einfach“ vor…
Von Schicksalen, Informationsüberflutung …
Die ersten Tage waren die schlimmsten. Plötzlich war ich für 26 verschiedene Dossiers zuständig. Hinter jedem Dossier versteckt sich eine Geschichte: eine Familie, die auseinandergerissen wurde und versucht, eine Zusammenführung zu erwirken, ein Mann, der zum Arzt muss oder eine Frau, die aus der Türkei um Unterstützung für sich und ihre schwerstbehinderte Tochter bittet. Müsste ich die ersten Tage mit einem Wort beschreiben wäre es: Informationsüberflutung.
Zeitgleich mit mir haben ein Volontär aus Argentinien und eine Volontärin aus Zypern mit der Arbeit begonnen und wir erinnern uns ab und zu lachend an unsere überforderten, leicht panischen Gesichtsausdrücke der ersten Woche. Langsam haben wir, respektive habe ich nun gelernt, was wir tun können und was nicht und ich bewältige meine Tage mit etwas mehr Systematik.
… und kaum fassbaren Momenten
Meine NGO versucht, zu informieren. Wir gehen zu den Flüchtlingscamps und machen dort Informations-Sessionen vor Ort. Wir beantworten Fragen per WhatsApp und Facebook und helfen den Leuten, zu verstehen, was eigentlich genau mit ihnen passiert. Wir erkundigen uns bei den verschiedensten involvierten Akteuren nach dem Stand der Dossiers und vernetzen, wenn möglich die, die es nötig haben mit Anwälten. Jeden Tag werde ich aufs Neue überrascht und bin sprachlos, was es alles gibt. Gerne teile ich hier meine „Top Drei“ – „Ich kann das einfach nicht glauben Momente“:
1. Skype: Wer ein Asylgesuch stellen möchte, muss via Skype eine Vorregistrierung durchführen, um einen Termin zur Registrierung zu erhalten. Es gibt dafür einen Stundenplan, der festlegt, zu welchen Zeiten man für die verschiedenen Sprachen anrufen kann. Die Probleme beginnen da, wo Leute noch nie von Skype gehört haben, nicht wissen, wie man Skype herunterlädt, nicht Lesen oder Schreiben können oder kein Smartphone oder anderes internetfähiges Gerät besitzen. Für einige Sprachen ist es zudem schier unmöglich, via Skype jemanden zu erreichen. Video
2. Die Stichdaten: Für viele Flüchtende kann ein Tag über die Lebensperspektiven und den Aufenthaltsort entscheiden. Wer beispielsweise vor dem 20. März 2016 in Griechenland angekommen ist, der konnte sich für ein Relocation-Programm anmelden. Wer jedoch am 21. März 2016 angekommen ist, der ist einen Tag zu spät und hat diese Option nicht mehr. Diese Person muss in Griechenland Asyl beantragen. Die Konsequenzen, die solche Stichdaten für Individuen haben, sind gewaltig und lebensprägend.
3. Die verlorenen und vergessenen Dossiers: Immer wieder gehen Dossiers verloren und Menschen warten und warten ohne dass die Behörden überhaupt wissen, dass jemand wartet. Für die Vorkommnisse gibt es aus meiner Sicht zwei Erklärungen: Entweder landen alle Fälle von verlorenen Dossiers bei unserer NGO und wir haben deshalb das Gefühl, es geschehen so viele Fehler oder aber etwas ist tatsächlich nicht ganz in Ordnung mit diesem System.
Trotz Hindernissen eine wertvolle Erfahrung
Es gibt zahlreiche weitere Beispiele, die mich und mein Team jeden Tag schier zum Verzweifeln bringen. Allerdings möchte ich diesen Text nicht mit Negativem beenden. Griechenland ist zurzeit mit seinen eigenen wirtschaftlichen Problemen am Kämpfen. Dazu kommen die vielen Flüchtende, die trotz des EU-Türkei-Deals über das Ägäische Meer auf den griechischen Inseln und auch übers Festland ankommen. Nicht gerade rosige Aussichten und man könnte denken, die Menschen hier seien mit ihrer Solidarität langsam am Ende. Doch dies ist nicht der Fall und ich bin immer wieder aufs Neue überrascht und berührt von der Gastfreundschaft und Offenheit der griechischen Bevölkerung.
Darüber hinaus gibt es eine grosse Volontier-Gemeinschaft. Menschen aus aller Welt kommen, weil sie helfen wollen. Mein Team besteht aus Leuten aus Neuseeland, Argentinien, USA, Zypern, Italien, Portugal, Spanien, Großbritannien, Deutschland, Finnland, Holland, Palästina, Syrien und mit mir auch aus jemandem von der Schweiz. Für mich ist das ein schönes Beispiel der internationalen Zusammenarbeit und eine sehr wertvolle Erfahrung.
PS: meine Sammelaktion 1 Franken pro Kilometer ist zu Ende, falls Sie dies verpasst haben und nun nicht wissen wohin mit dem Geld... ;-) dann würde sich meine NGO - Mobile Info Team sehr über eine Weihnachtsspende freuen. Zur Zeit sind wir in einer Fundraising-Phase damit wir auch nächstes Jahr unsere Arbeit fortsetzen können.
[i] Siehe auch die News-Berichte:
- "Mit dem Velo von Gysenstein nach Greichenland: Fiona Hutmacher verknüpft Abenteuer und Solidarität" vom 13.08.2017
- "Mit dem Velo von Gysenstein nach Griechenland: 1000-Kilometer-Grenze geknackt" vom 15.09.2017
- "Mit dem Velo von Gysenstein nach Griechenland: Update, Rückblick und Grüsse aus Halkidiki" vom 03.10.2017
Erstellt:
12.12.2017
Geändert: 12.12.2017
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