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Alain Tuor: "Ich wusste, jetzt ist fertig mit Gehen"

Alain Tuor (38) wohnt in Münsingen und sitzt seit über 20 Jahren im Rollstuhl. Bei einem Snowboardunfall brach er sich einen Halswirbel. Als Tetraplegiker kann er seine Arme noch bewegen. Die Handfunktion aber fehlt. Im Juni wurde er Europameister im Paracycling. Mit BERN-OST sprach er über seinen EM-Titel und wie es sich anfühlte als er sich den Halswirbel brach.

Alain Tuor: "Im August möchte ich an die Paralympics nach Tokio." (Bild: Rolf Blaser)
Alain Tuor auf seinem umgebauten Rennrad. Schalten kann er mit den Ellbogen. (Bild: zvg)

BERN-OST: Alain Tuor, Sie sind Anfang Juni in Österreich erst Vize-Europameister im Zeitfahren geworden, danach Europameister im Strassenrennen, herzliche Gratulation. Wie gross war die Freude über den Titel?

Alain Tuor: Die Freude war enorm! Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet. In meiner Kategorie hat es 10 bis12 Athleten, die an Wettkämpfen teilnehmen. Ich kenne deren Stärken. Auf der Strecke hatte es eine starke rund 11-prozentige Steigung. Dort bin ich wegen meiner Grösse im Nachteil.

 

Anfangs zweite Runde überholte mich der hinter mir gestartete Tscheche. Ich hängte mich an ihn. Beim Anstieg gab ich volle Leistung und überholte noch einen vor mir. Als ich zurück zum Team kam klatschten alle, der Nationaltrainer kam und gratulierte zum 2. Platz. Ich hatte eine Riesenfreude. Das war unglaublich schön.

 

Und danach holten Sie Gold beim Strassenrennen?

Ich telefonierte mit meiner Frau und sagte "steigt ins Auto und kommt nach Österreich". Am Sonntag war das Strassenrennen. Ich wusste, es wird hart. Beim Massenstart fährt das gesamte Feld volle Kanne. Wir fahren vier Runden à sechs Kilometern. In der ersten Runde kämpfte ich um eine gute Position. In der 2. Runde war ich plötzlich vorne.

 

Am Stutz feuerte mich meine Familie mit Kuhglocken und "Hopprufen" an. Ich blieb in Führung und sah die Verfolger hinter mir. In der letzten Runde feuerten mich alle an, ich war schon im roten Bereich. Meine Frau sagte mir, wenn du weitermachst, wirst du Europameister. Dann kam ich ins Ziel. Alle applaudierten, die Freude war riesig, das war abartig.

 

Die Siegerehrung war mega, auf dem Podest gab es eine goldene Medaille, die Hymne wurde gespielt. Ein magischer Moment.

 

Wie weit war der Weg für Sie zu diesem Europameistertitel?

Den Sport mache ich nun seit sieben Jahren. Der Körper musste sich erst dran gewöhnen. Im letzten Winter investierte ich viel Zeit ins Training. Es ist viel Arbeit, nicht nur der Sport, es ist ein grosser Aufwand und braucht eine gute Organisation. Schon nur, bis ich nach dem Training geduscht bin.

 

Wie oft trainieren Sie?

Ich trainiere täglich, mache Krafttraining und Fitness. Ich sehe mich aber nicht als Profi, ich betreibe Leistungssport. Auf die Saison hin trainiere ich bis zu 15 Stunden pro Woche.

 

Mitte Juni gings weiter an die WM in Portugal. Dort fuhren Sie auf den 7. Platz im Zeitfahren – sind Sie damit zufrieden?

An der WM hatte es auch Fahrer mit besseren körperlichen Voraussetzungen als ich. Vom Feld her wäre vielleicht der 5. Platz drin gelegen. Ich kam beim Rennen nicht richtig in den Flow, bin mit dem 7. Platz aber sehr zufrieden.

 

Was kommt als nächstes?

Gestern (das Interview wurde am Montag geführt) wurde ich Schweizer Meister im Strassenrennen in Wangen an der Aare. Wir sind in meiner Kategorie nur zu zweit. Ich gab Vollgas und es reichte.

 

Europameister, Schweizermeister und danach?

Ich hoffe, dass ich Ende August an die Paralympics nach Tokio kann. Sonst möchte ich 2024 an der Paracycling-WM in der Schweiz teilnehmen. Weiter will ich mich im selben Jahr für die Paralympics in Paris qualifizieren.

 

Seit dem Snowboardunfall mit 17 Jahren sitzen Sie im Rollstuhl – erinnern Sie sich noch an den Unfall?

Ja, klar. Das war im Snowboardpark in Adelboden, ich bin über eine Schanze gefahren und gestürzt. Ich habe keine Ahnung warum, ich bin gestürzt und auf den Kopf gefallen. Da brach die Halswirbelsäule. Ich war voll da und merkte, dass ich nicht aufstehen konnte. Ich merkte anfangs nicht viel, lag auf dem Bauch und konnte meine Handgelenke ein wenig bewegen.

 

Mehr ging nicht mehr. Da dachte ich, jetzt ist fertig mit Gehen. Dann kam die Rega. Sie haben mich betäubt. Erwacht bin ich dann in Nottwil im Paraplegigkerzentrum. Die Familie stand ums Bett und weinte. Sie wussten, was passiert war, ich noch nicht.

 

Was geht einem da durch den Kopf?

Am Anfang fühlte Ich mich wie ein Baby, ich konnte nichts mehr selbst machen. Ich hatte zum Glück eine super Physio- und Ergotherapeutin, die mich pushten. Ich musste wieder lernen ein Glas oder einen Kugelschreiber in die Hand zu nehmen. Die Muskulatur musste wieder aufgebaut werden.

 

Wie lange dauerte es, bis Sie das Paraplegikerzentrum verlassen konnten?

Nach neun Monaten konnte ich raus. Ich bin im Gwatt aufgewachsen, wohnte noch bei den Eltern. Wir mussten dann umziehen in eine Wohnung ohne Treppen nach Spiez.

 

Mir sagte mal jemand, es dauere zehn Jahre, bis man sich damit abgefunden hat. Und das stimmte. Es dauerte tatsächlich so lange bis ich mit mir im Reinen war. Man muss sich alles selbst erarbeiten. Es braucht viel Zeit, viel Geduld. Heute bin ich sehr zufrieden, habe meine Frau gefunden und eine Familie gegründet.

 

Wie kamen Sie aufs Paracycling?

Nach dem Unfall wollte ich Sport machen. Rollstuhl-Rugby war nichts für mich. Also kam ich aufs Rad. Ich habe das probiert und es gefiel mir. Ich fühlte mich frei, so sitze ich nicht im Rollstuhl. Mit meinem Liegerad kann ich hinfahren, wohin ich will. Das ist super. Heute bin ich Mitglied im Para-Racing-Team und werde zusätzlich von einem Trainer cecoacht. Der nächste Schritt ist nun, in die Nationalmannschaft zu kommen.

 

Ihr Bike sieht gefährlich aus – sie liegen fast auf der Strasse – haben Sie keine Angst?

Nein. Ich bin hinten mit einer auffälligen Fahne markiert. Das ging bis jetzt immer gut. Einzig vor Kreisvortritten ist es oft mühsam. Die Autos überholen mich immer noch kurz vor dem Kreisel, das ist manchmal schon knapp.

 

Treiben Sie sonst noch Sport?

Ich habe letzten Winter angefangen mit Langlauf. Das gefällt mir sehr gut. Man setzt sich in einen Schlitten, der auf Langlaufskis montiert ist, und gibt mit den Stöcken an.

 

[i] Alain Tuor wohnt in Münsingen, ist verheiratet und hat eine 6-jährige Tochter. Er arbeitet zu 50 Prozent im Verkauf in der Reha-Technik. Bei der Firma Rundum im Liebefeld baut er den Bereich Inkontinenz auf. Tuor ist Tetraplegiker, sein Trizeps funktioniert nicht mehr. Er kann die Arme anheben, aber nicht strecken. Er hat keine Handfunktion. Die Handgelenke kann er ein wenig bewegen.


Autor:in
Rolf Blaser, rolf.blaser@bern-ost.ch
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Erstellt: 11.07.2021
Geändert: 11.07.2021
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