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Ehemaliges Verdingkind erzählt: Auch in der Schule schauten alle weg
«Es ist ein dunkles Kapitel in unserer jüngeren Geschichte», mit diesem Satz leitet Gemeindepräsidentin Bettina Gerber den Gedenkanlass in Oberdiessbach ein. Viele Leute sind gekommen, um den Verdingkindern zu gedenken. Die Geschichte, welche das ehemalige Verdingkind Marie-Louise Streich erzählt, wird niemanden unberührt lassen.
Der offizielle Teil des Gedenkanlasses in Oberdiessbach lässt sich kurz zusammenfassen. In der ganzen Schweiz wurden weit über 100‘000 Kinder verdingt, über ein Viertel davon im Kanton Bern. «Es geht heute nicht um Schuldzuweisungen», sagt Gemeindepräsidentin Gerber. Auch nach Oberdiessbach seien Kinder verdingt worden. Das liess sich in den Fürsorgeakten in den Archiven nachlesen.
Entschuldigung vom Gemeinderat
Die Schicksale habe man aus diesen Protokollen nicht rekonstruieren können. Die Gemeinde ging die Akten aus der Zeit zwischen 1930 und 1980 durch. Darin sei vor allem festgehalten worden, wer bezahlt habe und wie die Eltern lebten. Auch die Gemeindebehörden hätten oft weggeschaut, man sei sich dessen bewusst. Dann sagt die Gemeindepräsidentin einen Satz, den man so nicht erwartet hätte: «Deshalb will ich im Namen des Gemeinderats um Verzeihung bitten. Es soll sich nie mehr wiederholen.» Stille herrscht im Saal des Kirchgemeindehauses.
Das Verdingkind erzählt
Marie-Louise Streich (62) war ein Verdingkind. Sie erzählt ihre Geschichte, die sprachlos macht. Eine Geschichte, die nicht in den 30er Jahren spielt, sondern sich zwischen 1972 und 1977 zugetragen hat.
«Ich bin zuhause mit vier Halbgeschwistern bei den Eltern aufgewachsen. Zuerst wohnten wir in Wilderswil, später sind wir nach Langenthal gezogen. Mit elf wurde ich verdingt. Meine Mutter hatte eine aussereheliche Affäre, so kam ich auf die Welt. Je älter ich wurde, umso mehr Probleme gab es zuhause wegen meiner Herkunft. Das war immer wieder ein Thema, bis sich meine Eltern scheiden liessen. Dann kam die Vorsorgebehörde und hat mich „verräumt“.
Das ging so: Eines Tages stand ein Mann vor der Tür und fragte, ob ich zu einer Bauernfamilie in die Ferien möchte. Ich war begeistert, da ich gerne Tiere hatte. Von den drei Wochen Ferien weiss ich heute nichts mehr. Der Mann kam wieder und meinte, es wäre wohl besser, wenn ich auf dem Hof bleiben würde. Daraus wurden fünf Jahre.» Marie-Louise Streich erlebte dort die schlimmste Zeit ihres Lebens. Ab 1972 wurde sie im Oberaargau auf einen Bauernhof verdingt. Sie erzählt ihre Geschichte lebhaft, ohne Pausen, ohne zu stocken.
«Ich war eine Bettnässerin»
«Der Alltag auf dem Hof war düster. Durch den psychischen Druck und das plötzliche Weggeben von daheim wurde ich zur Bettnässerin. Da hiess es, das kriegen wir in den Griff. Die Bäuerin war überfordert und versuchte mir das auszutreiben. Sie spritzte mich jeden Morgen von der Hüfte abwärts ab. Ich stand nackt auf dem kalten Betonboden in der Waschküche, während sie mich mit eiskaltem Wasser duschte. Das setzte mich unter Druck und ich nässte das Bett weiterhin. Sie schickte mich zum Doktor, wo ich Spritzen kriegte, was schmerzte und nichts brachte. Als auch das nichts änderte, wurde ich mit dem Teppichklopfer abgeschlagen. Ich hatte Striemen bis in die Kniekehlen. So ging ich in die Schule. Der Lehrer sah dies, sagte aber kein Wort. Das war 1972.»
Marie-Louise Streich schaut in die Menge im Kirchgemeindehaus und sagt: «Ein elfjähriges Kind so zu behandeln ist eine Menschenrechtsverletzung.» Einige nicken. Stille.
Keine Freizeit
«Die Bauernfamilie hatte zwei eigene Kinder, aber die waren schon älter. Wir waren vier Pflegekinder. Zwei Jungen, ein Mädchen und ich. Ich schlief zusammen mit dem Mädchen in einem Zimmer. Das Verhältnis mit ihr war schlecht. Sie kam aus einem Heim, sie log viel und hat immer Sachen gestohlen. Oft hat sie ihre Taten auf mich geschoben und ich erhielt dann die Schläge dafür. Wir waren auf dem Hof, um zu arbeiten. Um halb sechs mussten wir aufstehen, die Tiere füttern und Frühstück machen. Dann gingen wir zur Schule, am Mittag heim, um zu essen, danach arbeiteten wir auf dem Bauernhof. Freizeit gab es kaum, höchstens mal an einem Sonntag.»
Kontakt zu Eltern abgebrochen
Wärme und Liebe, eine Umarmung, ein nettes Wort, das gab es nie. Das kannte ich nicht. Als ich immer abgeschlagen wurde, schrieb ich dem Vormund einen Brief. Er kam, redete eine halbe Stunde mit der Bäuerin, ich durfte nicht dabei sein. Als er ging, kriegte ich von der Bäuerin eine Wasche gehauen. Sie schrie mich an, was ich dem wohl erzählt hätte.
Der Kontakt zu meinen Eltern war vollständig abgebrochen. Es hiess, zuhause bei uns sei nichts gut. Der Stiefvater hätte mich missbraucht und die Mutter sei nicht fähig für mich zu sorgen. Also konnte ich nicht mehr nach Hause. Die Vormundschaftsbehörde hat das so eingefädelt. Auch in der Schule schauten alle weg. Von den Lehrern getraute sich niemand etwas gegen die Familie zu sagen. Es war eine angesehene Familie im Dorf, da sagte man nichts. Sie beteten in der Kirche und schlugen die Kinder ab. In der Klasse war ich das uneheliche Kind, das Pflegekind und wurde als minderwertig angeschaut.»
Schläge an Weihnachten
«Der Bauer hat mir nur einmal eine runtergehauen. Uns Mädchen gegenüber war er nicht so grob. Aber die Jungs wurden oft geschlagen, sei es im Stall oder wo auch immer. Einem der beiden Jungs wurden alle Finger gebrochen. Da wurde geschlagen, egal mit was, es war reine Willkür.
Liebe oder Momente der Freude gab es nie. Nicht mal an Weihnachten. Ich erinnere mich, dass wir an Weihnachten am Tisch sassen. Irgendein Zwischenfall war passiert, so genau weiss ich das heute nicht mehr. Ich sass am Tisch und schaute wohl traurig drein, da sagte die Bäuerin, ich soll nicht so ein Gesicht machen. Sie nahm das Brotmesser und haute mir eins über den Kopf. Ich merkte, dass ich blutete und hatte eine Riesenangst, dass sie es bemerkt. Ich hoffte, dass es niemand sieht, und dass Blut keine Flecken macht. Als wir aufstanden, sah die Bäuerin das Blut, sie sagte nur: 'Wer verliert da Blut? Macht nichts, dann läuft das Böse aus ihr raus.‘»
1977, nach fünf Jahren auf dem Bauernhof im Oberaargau, sah Marie-Louise Streich ihre Mutter wieder. Sie war jetzt 16-jährig. Bis 20 wurde sie bevormundet.
Vom Hof in die Fabrik
«Mein Traum war immer, Operationsschwester zu lernen. Da ich nicht in die Sek ging, konnte ich das nicht. Ich machte dann das Hauswirtschaftsjahr und viel später, mit 42, schloss ich noch eine Ausbildung zur Hotelfachassistentin ab.
Ich hatte danach Glück, dass ich nach dem Bauernhof bei zwei netten Personen wohnen konnte, sie halfen mir über vieles hinweg. Ich wurde nicht mehr geplagt, niemand bestrafte mich. Mit 19 erhielt ich meinen dritten Vormund. Er war hilfsbereit und setzte sich für mich ein. Wenn ich ihn schon früher gehabt hätte, wäre vieles anders gelaufen.
Durch einen glücklichen Zufall kam ich zu einer Wohnung und zu einer Arbeit bei Gugelmann in Roggwil. Vom Vormund erhielt ich ein Konto mit 6000 Franken drauf, davon durfte ich 3000 Franken haben und mir damit Möbel kaufen, um die Wohnung einzurichten. Das Geld kam von Alimenten, die mein Vater während Jahren bezahlt hatte. Vom ersten Tag an, als ich in meiner ersten eigenen Wohnung schlief, musste ich nie mehr ins Bett pinkeln.»
Das Erlebte verarbeiten
«Heute geht es mir gut, ich habe einiges aufarbeiten können in all den Jahren. Das hat schon geholfen. Es gibt auch heute immer wieder Momente, die mich zurückholen. Das kann ein Geräusch, ein Geruch oder eine Aussage sein. Das Erlebte zu verarbeiten war schwierig. Zuerst hatte ich das verdrängt. Als ich nicht mehr auf dem Hof war, wollte ich leben. Das zu verarbeiten kam erst viel später.»
2016 hat das Parlament beschlossen, die Geschichte der Verdingkinder oder, wie es offiziell heisst, der fürsorglichen Zwangsmassnahmen, aufzuarbeiten. Guido Fluri rief die Erzählbistros ins Leben. Dort traf Streich andere Verdingkinder.
An die Jugendlichen
«Es half mir sehr, mit anderen Verdingkindern zu sprechen. Das waren Leute, die wussten, wie ich mich fühlte und wie sehr es schmerzte. Wenn ich früher jemandem die Geschichte erzählte, hörte ich oft: 'Wir haben als Kinder auch ab und zu einen Chlapf erhalten, das hat noch keinem geschadet.‘ Solche Sprüche gab es beim Erzählbistro nicht. Dort fühlte ich mich nicht mehr minderwertig.
Heute arbeite ich in der Wäscherei eines Altersheims. Ich hoffe, ich kann bis zur Pensionierung dort bleiben. Was passiert ist, ist passiert, vergessen kann ich es nicht. Aber ich kann heute besser damit umgehen, als auch schon.
Den Teenagern möchte ich sagen: Seid glücklich und dankbar, dass ihr ein Zuhause habt. Geborgenheit in der Familie ist das kostbarste Gut, das ein Mensch haben kann. Das ist mehr wert, als alles Geld der Welt.»
Was Streich auch noch sagt: «Auch heute werden noch Kinder fremdplatziert, man sollte diese Institutionen auf Herz und Nieren prüfen.»
Pfarrer Langenegger entschuldigt sich
«Wir setzen ein Zeichen der Erinnerung, indem wir uns mit der Vergangenheit beschäftigen. Es gehört zu den dunkelsten Kapiteln der Schweizer Sozialgeschichte», sagt Roland Langenegger, Pfarrer in Oberdiessbach. Auch die Kirche sei nicht unschuldig daran, was passiert sei.
«Pfarrer amteten damals als Vormund. Sie übten verbale und physische Gewalt gegenüber den Kindern aus. Das reicht von der passiven Untätigkeit bis zum aktiven Missbrauch von Kindern.» Es sei ein düsteres Kapitel, welches von der Kirche noch nicht aufgearbeitet wurde. In katholischen Gebieten der Schweiz wurden die Kinder eher in Heimen fremdplatziert, in den protestantischen Gebieten in Familien. Auch die reformierte Kirche sei daran beteiligt gewesen.
«Als Vertreter der Kirche bitte ich um Entschuldigung für diese Taten, bei welchen die Kirche weder geholfen noch hingeschaut hat.»
In Oberdiessbach und vielen weiteren Gemeinden wurde am Donnerstag den Verdingkindern zugehört. Ein Stück Schweizer Geschichte aus einer Zeit, in der alle wegschauten. Die Gemeinden, die Kirche, die Schulen.
[i] 2014 lancierte ein überparteiliches Komitee die Wiedergutmachungs-Initiative. Das Parlament übernahm die Forderungen aus der Initiative, worauf die Verdingkinder einen Solidaritäsbeitrag zugesprochen erhielten. Über 9000 Betroffene haben ein Gesuch eingereicht, so auch Marie-Louise Streich, und erhielten eine Entschädigung.
[i] Bis 1980 fanden in der Schweiz fürsorgliche Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen statt. Ohne Gerichtsbeschluss wurden Frauen, Männer oder Kinder administrativ versorgt. Betroffen davon waren: Fahrende, Jenische, Frauen, denen man einen „lasterhaften Lebenswandel“ unterstellte, Männer und Frauen, die ein „liderliches Leben“ führten oder als „arbeitsscheu“ eingestuft wurden. Aus verarmten Familien wurden Kinder verdingt oder zwangsadoptiert. Verdingt wurden auch Kinder aus Waisenhäusern. Es wurden auch Zwangssterilisationen, Zwangskastrationen und Zwangsabtreibungen durchgeführt.
[i] Bis am 18. Juni können in Oberdiessbach 20 Themenplakate auf einem Dorfrundgang betrachtet werden. Ziel der Ausstellung ist die Verbindung eines historischen Themas mit konkreten Biografien und zukunftsgerichteten Fragen.
Erstellt:
28.05.2023
Geändert: 28.05.2023
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