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Eliane Michel: «Das Lory ist heute nicht mehr dasselbe wie vor 26 Jahren»
Über ein Vierteljahrhundert lang hat Eliane Michel als Direktorin das Jugendheim Lory in Münsingen geleitet, im September ist sie in Pension gegangen. Sie hat wichtige Entwicklungen angestossen, stand aber auch immer wieder in der Kritik, das Jugendheim sei eher ein Gefängnis. Würde sie heute etwas anders machen?
Mitte September hat Eliane Michel ihr Büro im Jugendheim Lory geräumt: Nach 26 Jahren als Direktorin ist sie in Pension gegangen und hat Platz gemacht für ihre Nachfolgerin Tamara Mosimann Huggler. Diese werden wir in einem späteren Beitrag zu Wort kommen lassen. In diesem Beitrag wollen wir von Eliane Michel wissen, mit welchen Gefühlen sie auf das Vierteljahrhundert als Lory-Direktorin zurückschaut.
Eine ganze Ära
Die ausgebildete Sozialarbeiterin nickt und sagt, beim Aufräumen seien tatsächlich viele Erinnerungen wieder wachgeworden. «So viele Jahre – das ist eine ganze Ära.» Eine Ära, auf die sie mit Stolz zurückschaut, aber auch durchaus selbstkritisch. «Die Gesellschaft war damals eine andere als heute», schickt sie vorab: «Sie erwartete von der Jugendhilfe etwas ganz anderes.»
BERN-OST: Frau Michel, erinnern Sie sich noch: Wie haben Sie sich in Ihren Anfangstagen als Direktorin gefühlt?
Eliane Michel: Damals war ich 38 Jahre alt, und mir war sehr bewusst, dass ich eine grosse Verantwortung trage – für die jungen Frauen, aber auch für die damals siebzehneinhalb Mitarbeitenden. Keine kleine Aufgabe, heute habe ich das Gefühl, ich war eher noch etwas jung für diesen herausfordernden Posten.
Sie haben etliche Neuerungen eingeführt. Welches war ihr erster grosser Coup?
Im Jahr 2000 eröffneten wir eine Volksschule und führten die Sozialpädagogik als Disziplin ein. Bis dahin hatten sich noch der Schreiner und der Koch um die Ausbildung der jungen Frauen gekümmert und sie bei der Arbeit angeleitet. Gleichzeitig waren die Berufsleute auch für die Betreuung im Wohnbereich und in der Freizeit zuständig. Damals war nur eine einzige Sozialpädagogin zu 50 Prozent angestellt.
Und was brachte die Sozialpädagogik Neues?
Mit der Einführung der Sozialpädagogik ging es dann zusätzlich um die Freizeitgestaltung, also um eine ganzheitliche Betreuung. Mit dieser Umstellung wurde auch das Lory zu einer zeitgemässen Einrichtung.
Was damals als zeitgemäss galt, scheint teils aus heutiger Sicht sehr veraltet...
Ja, die Aufgaben der Institutionen haben sich im Lauf der Zeit stark verändert: Diese wurden von Erziehungs- und Arbeitsanstalten zu sozialpädagogischen Einrichtungen. Ziel ist nicht mehr, die jungen Frauen zu disziplinieren, sondern sie noch viel gezielter auf das Leben vorzubereiten. Früher galt die Idee, dass Sanktionen wirken. Heute wissen wir, dass alles über Beziehung läuft, nicht über Strafen – diese bewirken nur eine vordergründige Anpassung.
Trotz Neuerungen wurden Sie oft kritisiert, das Lory gar mit einem Gefängnis verglichen – was macht das mit einem?
Natürlich war es nicht angenehm, in der Presse als harte Gefängnisdirektorin dargestellt zu werden. Aber im Jugendfürsorgebereich ist man schnell negativer Kritik ausgesetzt – keine junge Frau findet es toll, gegen ihren Willen in einem Jugendheim untergebracht zu werden. Der ganze stationäre Jugendhilfebereich hat sich weiterentwickelt, aber eine klare Struktur erachte ich nach wie vor als wichtig, da sie den jungen Frauen Orientierung ermöglicht. Ich konnte aber jederzeit überzeugt zu meiner Haltung stehen, und mit der Zeit habe ich gegenüber solchen Vorwürfen eine gewisse Gelassenheit entwickelt.
Gibt es etwas, das Sie heute trotzdem anders handhaben würden?
Ja, den Einschluss. Aus heutiger Sicht klingt es schon sehr krass, junge Ausreisserinnen, die von der Polizei aufgegriffen und zurückgebracht wurden, mit Einschluss zu bestrafen. Das hat auch keine nachhaltige Wirkung, wie man heute weiss. Nach damaliger Praxis war man jedoch überzeugt, den jungen Frauen mit den strengen Sanktionen zu helfen: Sie sollten sich auf sich selbst besinnen und stabile Strukturen finden.
Und das ist heute nicht mehr so?
Heute herrscht eine komplett andere Haltung: Jugendliche sollen nicht Angst haben, ins Lory zurückzukehren. Sie dürfen sofort wieder auf die Gruppe, wenn sie sich bei der Rückkehr konstruktiv verhalten, denn sie sollen nicht erneut traumatisiert werden, sondern stets neue Chancen erhalten, sich weiterzuentwickeln.
Was gehört ausserdem zur neuen Haltung?
Inzwischen hat sich in der Fachwelt auch die Überzeugung durchgesetzt, dass individuelle Ausnahmen möglich sein müssen: Diese schaden keineswegs, sondern festigen die Beziehung zwischen Fachpersonen und jungen Frauen. Und diese wiederum ist die elementare Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit.
Einschluss gibt es also heute nicht mehr?
Doch, aber nur in sehr seltenen Fällen, wenn eine Jugendliche sich selbst oder andere akut gefährdet – im Sinne einer Sicherheitsmassnahme. Und bei massiven Vorfällen von körperlicher Gewalt, die wir in keiner Art und Weise akzeptieren. Dabei muss man sehen, dass alles zwei Seiten hat: In gewissen Situationen ist es sinnvoll und unsere Aufgabe, junge Menschen zu schützen, manchmal auch vor sich selbst und gegen ihren Willen. Denn es ist nicht wirklich besser, wenn sie stattdessen auf der Gasse leben, im Drogensumpf und ohne Chance auf einen Schulabschluss und einen Weg in ein selbstbestimmtes Leben.
Worauf sind Sie besonders stolz?
Auf die wichtigen fachlichen Neuerungen! Nach dem ersten grossen Schritt mit der Einführung der Sozialpädagogik haben wir uns noch einmal modernisiert: 2018 habe ich die Schemapädagogik eingeführt. Diese fördert einerseits die ressourcenorientierte Entwicklung der Jugendlichen. Andererseits setzt sie auf die Interaktion und Beziehung zwischen Jugendlichen und Fachpersonen – sie hilft, Stress und Eskalationen vorzubeugen. Das war eine aufwändige, aber enorm wichtige Neuerung.
Mit welchen Gefühlen schauen Sie auf Ihre Lory-Jahre zurück?
Es waren spannende und schöne, aber auch happige Jahre. Ich musste in dieser Zeit ab und zu einstecken. Insgesamt bin ich stolz darauf, dass ich zwar nicht alles perfekt, aber doch bis zum Schluss immer wieder Veränderungen in die richtige Richtung gemacht habe: Heute ist das Lory in der Fachwelt anerkannt und geniesst einen guten Ruf.
Und wo wird das Lory in weiteren 26 Jahren stehen?
Dann wird es wiederum ganz anders aussehen, weil sich die Gesellschaft und ihre Anforderungen noch einmal grundlegend verändert haben. Einen sehr viel grösseren Stellenwert wird das Thema «Psychische Belastung» einnehmen, das seit Corona stark zugenommen hat. Entsprechend müssen sich Jugendheime besonders punkto Therapieangebote weiterentwickeln.
Möchten Sie Ihrer Nachfolgerin etwas mitgeben?
Tamara Mosimann wird vieles anders machen als ich, sie hat als Lehrerin auch einen anderen Background als ich. Einiges wie zum Beispiel das Überarbeiten des Verhaltenskodexes habe ich absichtlich für sie stehengelassen, damit sie es nach ihrem Gutdünken anpacken kann. Aber einen hilfreichen Grundsatz kann ich ihr doch mitgeben: An den Punkt, an dem alles erledigt ist, kommt man nie!
Mehr Zeit und weniger Verantwortung
Entspannt schaut Eliane Michel von ihrem Balkon im 14. Stock auf den Gurten. Herbstlich warm scheint die Sonne auf das Gürbetal weit unter ihr. Sie freut sich, nach all den Jahren mehr Freiraum zu haben: Zeit für ihren Freundeskreis, zum Wandern, zum Bewegen und um Ausstellungen zu besuchen. Sie lächelt. «Ich werde es geniessen, mehr Zeit zu haben – und weniger Verantwortung.»
[i] Tamara Mosimann Huggler ist neue Direktorin im Jugendheim Lory: Das Kantonale Jugendamt hat Tamara Mosimann Huggler zur neuen Direktorin gewählt. Sie ist seit dem 1. September 2024 in ihrem Amt. Die 46-jährige Tamara Mosimann Huggler hat einen Master of advanced studies Bildungsmanagement. Sie ist ausgebildete Sekundarlehrerin und verfügt als Schulleiterin über langjährige Führungserfahrung. Seit Oktober 2023 hat sie als Mitglied der Geschäftsleitung und Leiterin Tagesbetreuung ad interim im Jugendheim Lory gearbeitet.
Erstellt:
31.10.2024
Geändert: 31.10.2024
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