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Grosshöchstetten - Der Dalai Lama schrieb ihre Geschichte mit
Suzanne Brun nahm 1961 zusammen mit ihrem Mann zwei Buben aus dem Tibet bei sich auf. Ihre Geschichte ist fortan eng mit jener des Dalai Lama verbunden, der diesen Mittwoch in Bern zu Besuch ist.
In Erinnerungen versunken, blättert Suzanne Brun im Fotoalbum. Jedes Bild eine Geschichte. Bei einem Foto hält die 90-Jährige kurz inne. «Das ist Tsiring, der Ältere», sagt sie und biegt die Seite sanft gerade. 1962 steht handgeschrieben oberhalb des Bildes. Zu sehen ist ein sechsjähriger Junge mit einer Trillerpfeife im Mund.
«Seine Lehrerin hat ihm diese Pfeife geschenkt, damit er das «sch» besser aussprechen kann», sagt Brun und lächelt. Sie blättert eine Seite zurück. 1961: Die 35-jährige Suzanne Brun mit Pema (3 Jahre) im Arm und Tsiring (5), der vor ihr steht. Es war das Jahr, als die beiden Jungen zu ihr nach Grosshöchstetten kamen.
Die Flucht
Der Tibet-Aufstand begann am 10. März 1959 und dauerte nur wenige Tage. Das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» rekonstruierte fünfzig Jahre später die Ereignisse, welche zur Flucht und zum Tod Tausender Menschen geführt hatten. Die Tibeter befürchteten damals, dass die bereits in der Hauptstadt Lhasa stationierten chinesischen Truppen ihr geistiges Oberhaupt, den Dalai Lama, entführen wollten. Und so stellten sich 30'000 von ihnen schützend vor dessen Palast.
Die Stimmung war angespannt. Sieben Tage lang rührte sich niemand von der Stelle. Der Dalai Lama entschied sich schliesslich am Abend des 17. März 1959, Lhasa unerkannt zu verlassen. Als sich seine Flucht zwei Tage später herumsprach, brach das Chaos aus. Die chinesischen Truppen schlugen das Aufbegehren der Tibeter blutig nieder.
In wenigen Tagen starben 10'000 Menschen.
In wenigen Tagen starben 10'000 Menschen. Der Dalai Lama aber erreichte nach zweiwöchiger Flucht am 30. März 1959 Dharamsala, die tibetische Exilstadt in Indien. Tausende seiner Landsleute folgten ihm. Unter ihnen auch die Eltern von Tsiring und Pema mit ihren Kindern.
Der Aufruf
Aus dem Nebenzimmer ist ein Rumpeln zu hören. Suzanne Brun schreckt kurz auf. «Pema?», ruft sie in die Leere des Raumes. Wenig später kommt Pema Brun zur Tür herein, sagt Hallo und setzt sich mit an den Tisch. Im Alter von zwanzig Jahren erlitt er kurz nach Abschluss der Berufsmatura einen Töffunfall.
Seither ist er auf Pflege angewiesen. Kann er sich noch an seine frühe Kindheit erinnern? «Nein, das ist zu lange her», sagt er und beginnt in den Unterlagen auf dem Tisch zu wühlen. Zeitungsartikel, Magazine, Fotos: Zeitdokumente der tibetischen Geschichte, Pema Bruns Geschichte.
Charles Aeschimann, ein Industrieller aus Olten, vermittelte zwei Jahre nach dem Aufstand aus Eigeninitiative 200 tibetische Pflegekinder in die Schweiz. In der Schweizer Presse erschienen damals flammende Aufrufe, man solle sich bei Aeschimann melden.
Auch Hans und Suzanne Brun, das Ärztepaar aus Grosshöchstetten, folgten dem Aufruf. Für Suzanne Brun war es selbstverständlich, dass man Menschen in Not hilft. Während des Zweiten Weltkriegs musste sie jahrelang im Wohnzimmer übernachten, weil ihre Eltern französische und polnische Soldaten bei sich zu Hause aufnahmen.
Die Ankunft
Als Tsiring und Pema in die Schweiz kamen, waren sie von den prekären Verhältnissen im Flüchtlingslager von Dharamsala gezeichnet. «Sie hatten beide die Masern», erinnert sich Brun. Das Ehepaar Brun pflegte die beiden Buben gesund und kümmerte sich fortan um sie.
Jahre später löste die Aktion Aeschimanns Kritik aus. Er hatte die Platzierung der Pflegekinder damals persönlich mit dem Dalai Lama vereinbart. Was der Öffentlichkeit lange unbekannt war: Die meisten Pflegekinder waren keine Vollwaisen, sondern hatten noch einen oder beide Elternteile. Der Zürcher Ueli Meier dokumentierte 2012 die Geschichte eines Pflegekinds im Film «Tibi und seine Mütter».
«Wir konnten die beiden nicht einfach in dieses Elend zurückschicken, als sie wieder gesund waren.» Suzanne Brun
Auch die Eltern von Tsiring und Pema lebten noch, verstarben aber wenige Jahre nach ihrer Ankunft in Dharamsala. «Wir konnten die beiden nicht einfach in dieses Elend zurückschicken, als sie wieder gesund waren», sagt Suzanne Brun bewegt. Und es habe damals keine Möglichkeit gegeben, die ganze Familie in die Schweiz zu holen.
So wuchsen Tsiring und Pema in Grosshöchstetten auf. «Es waren einfach die Kinder des Dorfarztes», sagt Brun zur damaligen Situation im bäuerlich geprägten Dorf. Als Katholikin hatte sie anfangs Bedenken, dass sie den beiden Buben die Kultur nicht näherbringen konnte. Also suchte sie das Gespräch mit einem buddhistischen Mönch. «Er sagte mir, ich solle die Kinder einfach so erziehen, dass sie in der Seele glücklich sein können.»
Die Rückkehr
Pema Brun spürt die Sehnsucht nach der alten Heimat heute nicht mehr so stark. «Ich fühle mich als Emmentaler», sagt er. Anders Tsiring Brun. Er verbrachte die ersten fünf Jahre seines Lebens in Tibet. Dass er von dieser Zeit nicht einfach loslassen kann, war Suzanne Brun früh klar. «Ich kann dir meinen Glauben, meine Kultur und meine Liebe geben. Aber es wird immer auch eine zweite Seele in dir wohnen», habe sie ihm einmal gesagt.
«Ich fühle mich als Emmentaler.» Pema Brun
Vor fünf Jahren reiste Tsiring Brun, der in der Schweizer Armee als Gebirgsgrenadier diente, erstmals über abenteuerliche Wege in die alte Heimat. Fasziniert betrachtet Suzanne Brun die Bilder, die ihr Sohn von der Reise mitgebracht hat. Auch für sie und ihren 2007 verstorbenen Mann war Tibet immer ein Sehnsuchtsland.
Eine Reise fand aber nie statt. «Mein Mann war dreissig Jahre lang in der Schweizer Tibethilfe tätig», sagt Brun erklärend. China schottet das Land noch heute ab und schränkt dabei die Freiheiten der Tibeter laut Amnesty International massiv ein.
Der Besuch
In seiner Funktion bei der Schweizer Tibethilfe traf Hans Brun auch den Dalai Lama schon persönlich. Dieser Dalai Lama, der 1959 über den Himalaja nach Indien floh und Tsiring und Pema in die Schweiz brachte, kommt nun am Mittwoch nach Bern. Wird Suzanne Brun dann auch da sein?
Die 90-jährige Grosshöchstetterin lächelt milde: «Wenn ich die Kraft habe, dann gehe ich.» Allerdings wird sie nur seine Ankunft mitverfolgen können. Der Vortrag im Haus der Religionen ist nur für geladene Gäste.
Ihre Söhne würden sicher gehen, sagt Suzanne Brun. Seit einiger Zeit wohnt auch Tsiring, der ältere Sohn, wieder im Haus der Familie Brun, um Mutter und Bruder zu helfen. Dass er wieder eingezogen ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Einrichtung. Während im Wohnzimmer ein Kreuz auf der Schublade steht, sitzt vor dem Haus ein Buddha.
«Seine Lehrerin hat ihm diese Pfeife geschenkt, damit er das «sch» besser aussprechen kann», sagt Brun und lächelt. Sie blättert eine Seite zurück. 1961: Die 35-jährige Suzanne Brun mit Pema (3 Jahre) im Arm und Tsiring (5), der vor ihr steht. Es war das Jahr, als die beiden Jungen zu ihr nach Grosshöchstetten kamen.
Die Flucht
Der Tibet-Aufstand begann am 10. März 1959 und dauerte nur wenige Tage. Das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» rekonstruierte fünfzig Jahre später die Ereignisse, welche zur Flucht und zum Tod Tausender Menschen geführt hatten. Die Tibeter befürchteten damals, dass die bereits in der Hauptstadt Lhasa stationierten chinesischen Truppen ihr geistiges Oberhaupt, den Dalai Lama, entführen wollten. Und so stellten sich 30'000 von ihnen schützend vor dessen Palast.
Die Stimmung war angespannt. Sieben Tage lang rührte sich niemand von der Stelle. Der Dalai Lama entschied sich schliesslich am Abend des 17. März 1959, Lhasa unerkannt zu verlassen. Als sich seine Flucht zwei Tage später herumsprach, brach das Chaos aus. Die chinesischen Truppen schlugen das Aufbegehren der Tibeter blutig nieder.
In wenigen Tagen starben 10'000 Menschen.
In wenigen Tagen starben 10'000 Menschen. Der Dalai Lama aber erreichte nach zweiwöchiger Flucht am 30. März 1959 Dharamsala, die tibetische Exilstadt in Indien. Tausende seiner Landsleute folgten ihm. Unter ihnen auch die Eltern von Tsiring und Pema mit ihren Kindern.
Der Aufruf
Aus dem Nebenzimmer ist ein Rumpeln zu hören. Suzanne Brun schreckt kurz auf. «Pema?», ruft sie in die Leere des Raumes. Wenig später kommt Pema Brun zur Tür herein, sagt Hallo und setzt sich mit an den Tisch. Im Alter von zwanzig Jahren erlitt er kurz nach Abschluss der Berufsmatura einen Töffunfall.
Seither ist er auf Pflege angewiesen. Kann er sich noch an seine frühe Kindheit erinnern? «Nein, das ist zu lange her», sagt er und beginnt in den Unterlagen auf dem Tisch zu wühlen. Zeitungsartikel, Magazine, Fotos: Zeitdokumente der tibetischen Geschichte, Pema Bruns Geschichte.
Charles Aeschimann, ein Industrieller aus Olten, vermittelte zwei Jahre nach dem Aufstand aus Eigeninitiative 200 tibetische Pflegekinder in die Schweiz. In der Schweizer Presse erschienen damals flammende Aufrufe, man solle sich bei Aeschimann melden.
Auch Hans und Suzanne Brun, das Ärztepaar aus Grosshöchstetten, folgten dem Aufruf. Für Suzanne Brun war es selbstverständlich, dass man Menschen in Not hilft. Während des Zweiten Weltkriegs musste sie jahrelang im Wohnzimmer übernachten, weil ihre Eltern französische und polnische Soldaten bei sich zu Hause aufnahmen.
Die Ankunft
Als Tsiring und Pema in die Schweiz kamen, waren sie von den prekären Verhältnissen im Flüchtlingslager von Dharamsala gezeichnet. «Sie hatten beide die Masern», erinnert sich Brun. Das Ehepaar Brun pflegte die beiden Buben gesund und kümmerte sich fortan um sie.
Jahre später löste die Aktion Aeschimanns Kritik aus. Er hatte die Platzierung der Pflegekinder damals persönlich mit dem Dalai Lama vereinbart. Was der Öffentlichkeit lange unbekannt war: Die meisten Pflegekinder waren keine Vollwaisen, sondern hatten noch einen oder beide Elternteile. Der Zürcher Ueli Meier dokumentierte 2012 die Geschichte eines Pflegekinds im Film «Tibi und seine Mütter».
«Wir konnten die beiden nicht einfach in dieses Elend zurückschicken, als sie wieder gesund waren.» Suzanne Brun
Auch die Eltern von Tsiring und Pema lebten noch, verstarben aber wenige Jahre nach ihrer Ankunft in Dharamsala. «Wir konnten die beiden nicht einfach in dieses Elend zurückschicken, als sie wieder gesund waren», sagt Suzanne Brun bewegt. Und es habe damals keine Möglichkeit gegeben, die ganze Familie in die Schweiz zu holen.
So wuchsen Tsiring und Pema in Grosshöchstetten auf. «Es waren einfach die Kinder des Dorfarztes», sagt Brun zur damaligen Situation im bäuerlich geprägten Dorf. Als Katholikin hatte sie anfangs Bedenken, dass sie den beiden Buben die Kultur nicht näherbringen konnte. Also suchte sie das Gespräch mit einem buddhistischen Mönch. «Er sagte mir, ich solle die Kinder einfach so erziehen, dass sie in der Seele glücklich sein können.»
Die Rückkehr
Pema Brun spürt die Sehnsucht nach der alten Heimat heute nicht mehr so stark. «Ich fühle mich als Emmentaler», sagt er. Anders Tsiring Brun. Er verbrachte die ersten fünf Jahre seines Lebens in Tibet. Dass er von dieser Zeit nicht einfach loslassen kann, war Suzanne Brun früh klar. «Ich kann dir meinen Glauben, meine Kultur und meine Liebe geben. Aber es wird immer auch eine zweite Seele in dir wohnen», habe sie ihm einmal gesagt.
«Ich fühle mich als Emmentaler.» Pema Brun
Vor fünf Jahren reiste Tsiring Brun, der in der Schweizer Armee als Gebirgsgrenadier diente, erstmals über abenteuerliche Wege in die alte Heimat. Fasziniert betrachtet Suzanne Brun die Bilder, die ihr Sohn von der Reise mitgebracht hat. Auch für sie und ihren 2007 verstorbenen Mann war Tibet immer ein Sehnsuchtsland.
Eine Reise fand aber nie statt. «Mein Mann war dreissig Jahre lang in der Schweizer Tibethilfe tätig», sagt Brun erklärend. China schottet das Land noch heute ab und schränkt dabei die Freiheiten der Tibeter laut Amnesty International massiv ein.
Der Besuch
In seiner Funktion bei der Schweizer Tibethilfe traf Hans Brun auch den Dalai Lama schon persönlich. Dieser Dalai Lama, der 1959 über den Himalaja nach Indien floh und Tsiring und Pema in die Schweiz brachte, kommt nun am Mittwoch nach Bern. Wird Suzanne Brun dann auch da sein?
Die 90-jährige Grosshöchstetterin lächelt milde: «Wenn ich die Kraft habe, dann gehe ich.» Allerdings wird sie nur seine Ankunft mitverfolgen können. Der Vortrag im Haus der Religionen ist nur für geladene Gäste.
Ihre Söhne würden sicher gehen, sagt Suzanne Brun. Seit einiger Zeit wohnt auch Tsiring, der ältere Sohn, wieder im Haus der Familie Brun, um Mutter und Bruder zu helfen. Dass er wieder eingezogen ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Einrichtung. Während im Wohnzimmer ein Kreuz auf der Schublade steht, sitzt vor dem Haus ein Buddha.
Autor:in
Quentin Schlapbach, Berner Zeitung BZ
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Erstellt:
10.10.2016
Geändert: 10.10.2016
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