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Habstetter Schwingerlegende Ruedi Hunsperger: "Ich wollte nie schwingen"
Am Sonntag messen sich die Schwinger am Unspunnen-Schwinget in Interlaken. Ruedi Hunsperger siegte vor 49 Jahren am traditionsreichen Fest, obwohl er erst gar nicht teilnehmen wollte. Er habe damals Fussball und Ferien im Kopf gehabt, erzählt der dreifache Schwingerkönig aus Zollikofen.
Wir brauchen einen Expertentipp. Wer gewinnt am Sonntag den Unspunnen-Schwinget?
Ruedi Hunsperger: Wenn einer dazu einen Tipp abgibt, ist er für mich kein Experte. Ein Unspunnen-Schwinget ist wie ein Cupmatch im Fussball: Er hat eigene Gesetze, alles ist offen. Klar gibt es Topfavoriten, den Thurgauer Samuel Giger beispielsweise. Aber die Berner sind nach wie vor die stärkste Streitmacht, kein anderer Verband hat zehn Spitzenschwinger wie wir.
1968 wurden Sie als amtierender Schwingerkönig Co-Sieger am Unspunnen-Schwinget. Haben Sie diesen Erfolg denn nicht erwartet?
Ich war gut «zwäg», aber das war damals so eine Sache, eigentlich wollte ich gar nicht hingehen.
Weshalb nicht?
Ich wollte mit Fritz Uhlmann, meinem Freund und Trainingspartner, in die Ferien, zudem spielte an diesem Wochenende Zürich gegen YB, und wir sind Fussballfans. Doch einer von uns musste nach Interlaken, die Verbandsverantwortlichen wollten es so. Uhlmann sagte: «Ich war schon einmal dort, also musst du gehen.» Ich ging also hin, aber ein Teil meiner Gedanken war in den Ferien, der andere in Zürich am Match. Prompt verlor ich den ersten Gang, weil ich zu wenig konzentriert war. Der damalige Verbandspräsident Ernst Marti – er war nicht mein Freund – tobte.
Was geschah danach?
Man teilte mir die «Bösesten» zu, doch ich schlug alle. Am Schluss waren vier Schwinger gleichauf, weshalb es zwei Schlussgänge gab. Danach standen Peter Gasser und ich mit gleich vielen Punkten da. Ich hatte ihn aber im fünften Gang bezwungen, zudem hätte ich vom Königsbonus profitieren und daher Festsieger 1a werden sollen. Doch die Organisatoren gaben Gasser den Muni, ich wurde Zweiter. Dafür hätte ich eine Treichel für 4500 Franken gewonnen. Ich war so wütend, dass ich die Treichel stehen liess und stattdessen eine Holzfigur für 300 Franken mit nach Hause nahm. Mittlerweile werde ich als Sieger 1b aufgeführt.
Die Einteilung gibt an Schwingfesten noch heute zu reden.
Das ist so. Es gibt eine Regel: Du musst so gut «zwäg» sein, dass du alle Gegner packst. Aber das ist selten, bei mir gab es das nur einmal, 1969, als ich in Biel als Titelverteidiger zum zweiten Mal Schwingerkönig wurde. Dort hätten sie mir zwanzig Gegner hinstellen können, es hätte keine Rolle gespielt.
Sie kamen sehr spät zum Schwingen, erst mit 16 Jahren...
... ich wollte nie schwingen.
Warum nicht?
Es interessierte mich nicht. In Habstetten, wo ich aufwuchs, gab es zwei Sachen: Schwingen und Hornussen. Doch ich wollte boxen. Und in der Schule haben wir Handball gespielt, ich war ein halbes Jahr beim BSV Bern, das gefiel mir. Für meine Eltern kam beides nicht infrage, Boxen schon gar nicht. Und damals musste man tun, was die Eltern sagten. Dabei stellten sie, obwohl sie ziemlich konservativ waren, morgens um vier Uhr das TV an, um Muhammad Ali zu sehen.
Heute beginnt eine Karriere bereits im Kindesalter bei den Jungschwingern. Ist ein Weg, wie Sie ihn absolviert haben, heute noch denkbar?
Ja, ich glaube schon. Doch es gab viele Veränderungen. Zu meiner Zeit haben die meisten körperlich gearbeitet, das war bereits ein Training. Heute sitzen einige hinter dem Computer, müssen deshalb anders trainieren, im Fitnesscenter. Der Schwinger ist feingliedriger geworden, vielleicht auch bedingt durch die Ernährung. Doch wenn einer den Willen und die körperlichen Voraussetzungen dafür hat, also beispielsweise eine gewisse Körpergrösse, dann kann das passen.
Sie sind im allerbesten Alter, mit 28, zurückgetreten. Wären Sie nicht noch besser geworden?
Ich habe gern etwas angepackt, doch wenn ich es erreicht hatte, machte ich etwas anderes. Sicher, 28 ist ein gutes Alter. Aber nach dem dritten Titel als Schwingerkönig dachte ich: Das reicht doch!
Haben Sie diesen Schritt einmal bereut?
Nein, nie. 1972 liess ich das «Eidgenössische» in La Chaux-de-Fonds aus, weil mein Vater kurz davor verstorben war. In diesem Jahr war ich super drauf, wäre ich angetreten und dort Schwingerkönig geworden, hätte ich bereits damals einen Schlussstrich gezogen. Als ich dann 2 Jahre später gegen Uhlmann im Schlussgang von Schwyz stand, war das ein sensationeller Abgang.
Aber sicher auch eine komische Situation. Schliesslich stand Ihnen im letzten wichtigen Kampf ein Freund gegenüber.
Das ist so. Einen Königstitel kannst du aber nicht schenken. Ein paar Minuten vor dem Schlussgang meinte er zu mir: «Und jetzt?» Ich sagte: «Fridu, wenn du Schwingerkönig werden willst, musst du mich nehmen.» Er war mir nach der Niederlage nicht böse.
Sie verreisten am nächsten Tag sogar zusammen in die Ferien...
... das ist ja das Schöne an diesem Sport.
Haben Sie in den Ferien mit Uhlmann nochmals über den Schlussgang gesprochen?
Ja, aber eher im Spass. Ich hatte damals eine Autogarage, zwei Wochen vor dem «Eidgenössischen» kaufte Fridu bei mir einen BMW 728. Irgendwann bekam das jemand mit und meinte, wir hätten etwas gedreht. Wenn man Fridu darauf ansprach, meinte er jeweils im Scherz: «Entweder Schwingerkönig oder ein neuer BMW, für beides reichte es nicht.»
Schwingen geniesst heute eine unglaubliche Popularität, ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Wie erklären Sie sich das?
Plötzlich gab es bei anderen Sportarten Krawalle, doch bei uns sorgten noch immer drei Polizisten bei 30 000 Zuschauern für Ordnung. Die Leute fühlten sich auf einmal bei uns daheim. Zudem nahmen die Medien das Thema Schwingen vermehrt auf. Aus dem Schwingen wurde ein Spitzensport. Und natürlich kam dann Geld ins Spiel.
Finden Sie das gut?
Zwei, drei Sachen sollten die Verbandsverantwortlichen einen Riegel vorschieben. Ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn wir Profischwinger haben. Ich weiss, dass man von den Einnahmen leben kann. Aber Schwingen ist Brauchtum, und genau das hat viel zur Popularität beigetragen.
Aber eigentlich waren Sie ein Wegbereiter der Moderne. Sie haben mit einem Bären gerungen, als Schauspieler gearbeitet, gemodelt. Das war Selbstvermarktung im besten Sinne.
Das ist richtig. Ich habe immer ein bisschen provoziert, war ein Enfant terrible. Das Verrückte ist: Damals hätte ich Verbandspräsident Marti, der mich scharf kritisierte, aufs Matterhorn verbannen können. Heute muss ich sagen, ganz unrecht hatte er in gewissen Dingen nicht. Einige Entwicklungen gingen zu weit, bald sind wir so weit, dass Schwinger herumlaufen wie Formel-1-Fahrer, vollgepflastert mit Werbung.
Eine Faustregel besagt: Heute ist ein Schwingerkönigstitel rund eine Million Franken wert. Hadern Sie manchmal damit, dass Sie nicht annähernd so viel Geld verdienen konnten?
Nein, sicher nicht. Es stand damals gar nie zur Debatte, ich schwang für den sportlichen Erfolg, vermisste nichts. Natürlich hätte ich 100 000 Franken genommen, wäre mir ein entsprechender Vertrag angeboten worden. Aber die Gefahr ist gross, dass man sich dann übernimmt. Mir reicht, was ich habe.
Die Sportler sind heute auch professioneller betreut. Haben Sie sich damals mit Mentaltraining oder mit der Ernährung befasst?
Nein, das wäre den meisten von uns schon finanziell nicht möglich gewesen. Ich halte aber auch überhaupt nichts davon, von einem Entrecote 50 Gramm wegzuschneiden, damit es einem Ernährungsplan entspricht. Wir haben gegessen, was auf den Tisch kam. Allerdings war das auch gar nicht schlecht. Die Eltern hatten einen Garten, aus dem wir viel geerntet haben. Wir konsumierten viele sehr natürliche Nahrungsmittel, heute kommt man ja kaum um Abgepacktes herum. Laut den Ärzten habe ich sehr gute Knochen, da bin ich wie ein Dinosaurier. Das hängt wohl auch mit der Ernährung zusammen.
Ihre Siege liegen zwar 40 bis 50 Jahre zurück, sind aber vielen präsent.
Man erkennt mich nach wie vor. Das liegt sicher auch an der Erscheinung, wenn jemand gegen 1,90 Meter gross und über hundert Kilogramm schwer ist, bleibt er einfacher in Erinnerung.
Und am Erfolg. Dabei gewinnt man den Eindruck, dass Sie den Weg zum Erfolg nicht um jeden Preis gesucht haben.
Verbissen war ich nicht. Ich gehörte nicht zu denen, die ihre Grossmutter verpfändet hätten, um ein Schwingfest zu gewinnen. Vielleicht hat mich genau das stark gemacht. Ich konnte das Schwingen mit einer gewissen Lockerheit angehen und habe mich nicht verkrampft.
Woher kam dann der nötige Biss?
Zu Beginn ging ich eher widerwillig in den Schwingkeller. Dann aber machte es klick, und ich merkte: Doch, das könnte etwas werden. Und wenn ich etwas wollte, dann habe ich mich reingekniet. Der Wille spielte schon eine Rolle. Das war auch später bei der Idee vom Wirten so. Ich habe mich fürs Wirtepatent angemeldet und dieses auch geschafft. Das war der Wille – und das Glück, dass eine Frau in unserer Gruppe war, die uns zum Lernen motiviert hat. Wenn ich dann etwas erreicht habe, kann ich gut wieder loslassen.
Welchen Stellenwert hat das Schwingen, wenn Sie Ihr gesamtes Leben betrachten?
Ich will es nicht missen. Diese 10 Jahre haben einen grossen Beitrag an ein schönes Leben geleistet. Ich war gern mit den Kollegen zusammen, und der Erfolg hat mir auch Türen geöffnet. Aber er birgt Gefahren.
Welche?
Ich war viel unterwegs. Ich dachte, das sei in Ordnung, aber für meine Frau stimmte es irgendwann nicht mehr, wir haben uns getrennt. Inzwischen verstehen wir uns wieder gut. Auch mit meinem Sohn und meiner Tochter ist der Zusammenhalt gross.
Was würden Sie heute anders machen?
Ich würde mich stärker um die Ehe bemühen, mich hinsetzen und über die Dinge reden, aus heutiger Sicht waren die Differenzen nicht so gross. Man muss Kompromisse eingehen. Aber um dies einzusehen, braucht es eine gewisse Reife, die damals fehlte. Das geht allerdings nicht nur Sportlern so. Es geht wohl keiner durchs Leben, ohne dass ab und zu etwas nicht so läuft, wie er will.
Sie hatten in den vergangenen Monaten wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen.
Vor 17 Jahren hatte ich eine schwere Blutvergiftung, und die Ärzte hielten die Überlebenschancen für gering. Das war eine schwierige Zeit, mein Wille hat wohl geholfen, wieder vorwärtszuschauen, es ging wieder gut. Diesen Februar habe ich mich am Bein verletzt. Es war nur eine kleine Wunde, aber aufgrund meiner Vorgeschichte konnte mein Körper eine Entzündung nicht abwehren. Zuletzt war nicht sicher, ob das Bein erhalten bleibt. Ich war lange im Spital, brauchte Reha, es ging Monate auf und ab. Das ermüdet, ich kam an Grenzen. Jetzt geht es aufwärts, und ich kann Muskeln aufbauen.
Was hilft nebst Ihrer positiven Grundeinstellung?
Dass ich wieder in der Natur sein kann, stellt mich auf. Meine Kinder und meine Lebenspartnerin sind da. Ich habe guten Kontakt zu Kollegen und zu meiner Ex-Frau. Auch Schwinger haben sich gemeldet. Ich weiss nicht, ob andere Sportarten diesen Zusammenhalt in dieser Weise kennen.
Man spricht von der Schwingerfamilie. Waren die Kollegen immer da?
Nicht immer. Aber das geht auch gar nicht. Freunde und Kollegen sind nicht das Gleiche. Freunde begleiten einen durch dick und dünn, davon hat man nur wenige. Aber als Kollegen waren sie da, und viele meinten, sie würden mich gern wieder einmal an einem Schwingfest treffen.
Vielleicht am Sonntag?
Eher nein. Ich käme bei all dem Wiedersehen mit Kollegen gar nicht dazu, das Schwingen zu verfolgen. Interview: Brigitte Walser Marco Oppliger
[i] Video finden Sie auf der Website...
RUEDI HUNSPERGER IM GESPRÄCH
Zum Interviewtermin in Worblaufen erscheint Ruedi Hunsperger an Krücken. Er hofft, künftig auf zumindest eine verzichten zu können. Wegen einer Verletzung am Bein, die nicht heilte und schliesslich zu heftigen Komplikationen führte, lag er zuletzt mehrere Monate im Spital. Hunsperger gelangte physisch und psychisch an einen Tiefpunkt. Der «SonntagsBlick» berichtete vor drei Wochen über einen Suizidversuch. Hunsperger will sich dazu nicht mehr äussern, er betont jedoch, es gehe ihm wieder viel besser.
Sobald der 71-Jährige aus Zollikofen am Tisch sitzt, spürt man nichts mehr von gesundheitlichen Schwierigkeiten. Hunsperger ist ein äusserst anregender Gesprächspartner, er kennt aus eigener Erfahrung die Sicht der Schwinger, kann den Sport aber auch von aussen einschätzen und lässt dabei immer wieder seinen Humor durchschimmern. Seine Karriere dauerte zwar nur 10 Jahre, doch sie darf zweifellos als Erfolgsgeschichte bezeichnet werden.
Hunsperger ist dreifacher Schwingerkönig (1966 Frauenfeld, 1969 Biel, 1974 Schwyz; er hat fünfmal den Brünigschwinget gewonnen und 1968 am UnspunnenSchwinget triumphiert.
Erstellt:
21.08.2017
Geändert: 21.08.2017
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