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Landiswil: Die Ärmsten und ihr besonderer Reichtum
Die Gemeinde Landiswil weist das niedrigste steuerbare Einkommen der Region Bern-Ost aus. Dass deshalb in seiner Gemeinde die Ärmsten wohnen, weist Gemeindepräsident Samuel Wittwer aber vehement von sich: Er hat eine gute Erklärung für diese Zahlen. Und sowieso, sagt er, zähle gute Lebensqualität und schöne Landschaft viel mehr als Geld und Reichtum.
Die interaktive Online-Karte zur Studie «Ungleichheit und Armut in der Schweiz» der Berner Fachhochschule zeigt es deutlich: In Landiswil ist das steuerbare Einkommen mit 33'817 Franken nicht einmal halb so hoch wie in Bolligen mit 68'245 Franken. Laut dieser Karte ist Bolligen die reichste Gemeinde der Region Bern-Ost. Landiswil mit seinen 625 Einwohner:innen die ärmste.
Was löst diese Information beim Gemeindepräsidenten Samuel Wittwer aus? «Der Schock hält sich in Grenzen», kommentiert er trocken. Das sei eine wenig aussagekräftige Momentaufnahme und für ihn nicht relevant. «Bei statistischen Daten handelt es sich ohnehin meist um veraltete Zahlen.»
Viel investiert und viel abgezogen
Dennoch, die Zahlen sind nicht erfunden, es handelt sich um offizielle Kennzahlen der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Das stimme, räumt Wittwer ein, er findet für sich eine plausible Erklärung: «Während Corona hatten die Leute viel Zeit, um zu investieren», sagt er. Viele hätten Geld in den Gebäudeunterhalt gesteckt und dadurch hohe Abzüge geltend machen können. «Das hat das verrechenbare Steuereinkommen deutlich gesenkt.»
Tatsächlich, überlegt er dann, gehöre aber die Gemeinde aufgrund ihrer Struktur nicht zu den einkommensstarken der Region: «Landiswil ist stark von Landwirtschaft geprägt, wir haben wenig Gewerbe und keine teuren Dienstleistungen», sagt Wittwer. «Ausserdem leben viele Leute in klassischen Haushaltsformen, bei denen nur eine Person der Familie verdient.»
Herausfinden, wo Armut droht…
Genau solche regionalen Unterschiede will die Studie «Ungleichheit und Armut in der Schweiz» herausbringen. Oliver Hümbelin, Professor an der Berner Fachhochschule und Leiter der Studie, möchte feststellen, wo eigentlich armutsbetroffene Menschen leben. «Das wussten wir vor dieser Studie nicht genau», erklärt er. «Und es lässt sich auch nicht alleine anhand des steuerbaren Einkommens bestimmen.»
Mit Hilfe einer anonymisierten Verknüpfung von Steuer- und anderen Registerdaten sei das möglich: Damit lasse sich feststellen, wer mit einem Einkommen unterhalb des Existenzminimums lebt, wer bereits durch Sozialhilfe unterstützt beziehungsweise wer nicht von staatlichen Leistungen erreicht wird. «Auf dieser Grundlage lässt ich gut aufzeigen, wo armutsbetroffene und armutsgefährdete Menschen leben.» Einige Kantone machen solche Untersuchungen regelmässig, der Kanton Bern nicht.
…und Sozialhilfe einfacher zugänglich machen
Dies zu wissen sei wichtig, erklärt Hümbelin: Nur so könne man herausfinden, wie man betroffene Personen – vor allem Alleinverdienende, Grossfamilien oder Menschen mit Migrationshintergrund – besser unterstützen kann. «Für einige Gemeinden entstehen durch dieses Wissen auch andere Handlungsanforderungen», sagt er. Denn auch in der reichen Schweiz ist Armut ein Thema: 745'000 Menschen sind gemäss Bundesamt für Statistik armutsbetroffen.
Oliver Hümbelin geht es mit seiner Studie nicht zuletzt darum, Sozialhilfe einfacher zugänglich zu machen. Beispielsweise könne es helfen, wenn eine Gemeinde die Sozialhilfe niederschwelliger organisiere: «In einem Dorf, in dem alle einander kennen, kann die Hemmschwelle, Unterstützung zu holen, viel höher sein als in einer grossen, anonymeren Stadt.»
«Bei uns ist das nicht nötig»
Landiswils Gemeindepräsident Samuel Wittwer ist der Überzeugung, dass das in seiner Gemeinde nicht nötig ist: «Die Sozialhilfe ist bei uns ohnehin ausgesiedelt», sagt er. Aus Datenschutzgründen wisse er nicht, wer Sozialhilfe beziehe – und das sei in Ordnung, wenn auch manchmal schade: «Früher konnten wir Betroffenen noch ab und zu eine kleine Unterstützung zukommen lassen.»
Keine Seen und kein Big Business
Beim Sammeln der Daten haben die Studienautor:innen festgestellt, dass auch die Lage eine wichtige Rolle spielt für den Reichtum einer Gemeinde. «Rund um die Seen leben viel mehr Wohlhabende», erklärt Oliver Hümbelin, «während in landwirtschaftlich geprägten Gebieten das Einkommen generell tiefer ist.»
Auch in Landiswil spiele die geografische Lage wohl eine Rolle, sagt Gemeindepräsident Samuel Wittwer: «Wir wohnen ‘ab vom Schuss’ und haben nur einen bescheidenen Anschluss an den öffentlichen Verkehr.» In der Gemeinde gebe es keine Geschäfte, nur ein paar Hoflädeli und eine Bäckerin, die für Anlässe Backwaren liefere. Dazu den «Glace-Spycher», der selbstgemachte Glace verkaufe, und das traditionelle Restaurant Löwen sowie das Hotel und Restaurant Löchlibad, das vorübergehend leider geschlossen sei: «Das lädt keine Superreichen ein, sich in Landiswil niederzulassen.»
Man kennt sich und man hilft sich
Gleichzeitig hält Gemeindepräsident Wittwer fest, dass «Geld» und «Reichtum» noch lange nicht mit «Lebensqualität» gleichzusetzen sei. Denn: «Landiswil bietet eine sehr hohe Lebens- und Wohnqualität.» Man kenne sich untereinander, sagt er. «Sogar die Jungen erwähnen an den Jungbürgerfeiern, wie sie dieses Miteinander und Einander-Helfen schätzen.»
Als beispielsweise nach dem Sturm Lothar in der Gemeinde der Strom ausgefallen sei, hätten alle einander spontan ausgeholfen: «Wer seinen Teig nicht im elektrischen Ofen backen konnte, brachte ihn zu Nachbarn mit einem Holzofen und durfte ihn selbstverständlich dort backen.» Solche Gesten machen für ihn Landiswil zu einem sehr angenehmen Lebensort.
«Dieser Reichtum zählt mehr»
Nicht zuletzt versuche die Gemeinde, ihre Dienstleistungen hochzuhalten: Schulen und Vereinsleben würden sehr gefördert, betont Samuel Wittwer. Die Natur, das viele Grün ringsum, die Kiesgrube, die sich inzwischen zum reichhaltigen Biotop entwickelt habe: «All das ist wertvoll.»
Der Gemeindepräsident hält kurz inne, sagt dann dezidiert: Nein, er weigere sich schlichtweg, Landiswil als arm zu betrachten. «Wir haben einen anderen Reichtum, der viel mehr zählt!»
[i] Studie «Ungleichheit und Armut in der Schweiz»
Die Studie geht der Frage nach, wie die wirtschaftlichen Ressourcen in der Schweiz verteilt sind, aber auch, welche Faktoren das Armutsrisiko beeinflussen. Ausserdem will das Studienteam herausfinden, ob und wie wirkungsvoll die wohlfahrtsstaatlichen Instrumente Ungleichheit und Armut verringern können. Gemäss der interaktiven Karte unter dem Punkt «Ungleichheit und Armut» weisen die Gemeinden der Region Bern-Ost folgende durchschnittlichen steuerbaren Einkommen aus:
Bolligen |
68’245 |
Allmendingen |
64’355 |
Stettlen |
61’813 |
Vechigen |
59’472 |
Rubigen |
57’067 |
Münsingen |
54’920 |
Kiesen |
53’737 |
Wichtrach |
53’042 |
Worb |
52’135 |
Grosshöchstetten |
51’169 |
Tägertschi |
49’908 |
Schlosswil |
49’597 |
Konolfingen |
49’316 |
Mirchel |
49’004 |
Freimettigen |
48’667 |
Oberdiessbach |
48’565 |
Häutligen |
47’739 |
Oppligen |
47’647 |
Herbligen |
45’696 |
Niederhünigen |
45’114 |
Biglen |
44’387 |
Zäziwil |
43’430 |
Arni |
41’661 |
Brenzikofen |
41’488 |
Walkringen |
40’410 |
Oberhünigen |
38’302 |
Oberthal |
38’047 |
Bowil |
37’822 |
Linden |
37’219 |
Landiswil |
33’817 |
[ii] «Armutsmonitoring – das Instrument gegen Armut»
Die Berner Fachhochschule (BFH) hat ein datengestütztes Armutsmonitoringmodell entwickelt, mit dem sich wichtige Lücken in der Armutsbeobachtung der Schweiz schliessen lassen.
Erstellt:
18.02.2024
Geändert: 19.02.2024
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