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Münsingen - Der Chronist des Abbruchquartiers
Sepp Zink dokumentiert jede Episode seines Lebens. Viele davon spielten in der Höheacker-Überbauung, denn hier hat er dreissig Jahre lang gelebt. Jetzt wird ein Teil des Quartiers abgerissen. Natürlich ist Zink mit seiner Fotokamera wieder vor Ort.
Sepp Zink sagt von sich, er sei ein glücklicher Mensch. Und er ist ein fröhlicher Mann. Er lacht, als er ein letztes Mal durch seine frühere Wohnung spaziert. Sie befindet sich im Block am Terrassenweg 26 in Münsingen. Dreissig Jahre lang lebte Zink hier mit seiner Frau, der Tochter und den drei Söhnen im ersten Stock. «Wie schön wir es hier hatten», sagt er. Nun dauert es noch höchstens ein paar Tage, dann werden von der Wohnung nur Trümmer übrigbleiben. Sepp Zink müsste jetzt zum Weinen zumute sein.
In der Wohnung macht sich eine gespenstische Stimmung breit. Sonnenlicht fällt schwach durch die heruntergezogenen Läden. Eine Tür wurde aus den Angeln gehoben und liegt am Boden. Staub hängt in der Luft. Zink tritt ins leere Wohnzimmer. «Es sieht so klein aus», sagt er, «dabei hatten wir hier so viel Platz.»
Der Schock für die Mieter
Der Block am Terrassenweg gehört zur Überbauung Höheacker. Die acht Blöcke mit 129 Wohnungen wurden in den Siebzigerjahren gebaut. Vor knapp drei Jahren geriet das Quartier in die Schlagzeilen. Damals erfuhren die Mieter, dass die eine Hälfte des Quartiers saniert, die andere Hälfte abgebrochen und neu gebaut wird. Eigentümerin ist die Berintra AG, welche der UBS gehört, Vermieterin ist die Livit AG. «Zuerst dachte ich, das sei ein Witz», erinnert sich Zink. Es war für ihn unvorstellbar, dass das Quartier verschwinden könnte.
Nicht nur die Verantwortlichen der Überbauung gerieten in die Kritik, sondern auch der Münsinger Gemeinderat. Er ortete im Quartier Verdichtungspotenzial und ermöglichte eine dichtere Bauweise. In den Plänen der Gemeinde war stets von der Überbauung «Am Stutz» die Rede. Die Mieter kannten ihre Siedlung als Höheacker und ahnten nicht, dass es um ihre Wohnungen ging. «Diese Nachricht war ein Schock für uns», sagt Zink.
Während die Sanierung im unteren Teil abgeschlossen ist (siehe Kasten), zeugen im oberen Teil Baumaschinen der Firma Kästli vom bevorstehenden Abbruch. Seit ein paar Tagen sind die Bauarbeiter daran, die Wohnungen auszuhöhlen. Ende dieser Woche, sagt einer der Arbeiter, könnte mit dem Abriss der Blöcke begonnen werden. Und der ehemalige Bewohner Zink kommt regelmässig mit seinem Fotoapparat hierher und dokumentiert den Abriss.
Immer die Kamera dabei
Der 62-Jährige ist ein Chronist seines Lebens. Jede Episode hält er in einem Tagebuch mit Text und Fotos fest. Es gibt kaum einen Moment, an dem er den Fotoapparat nicht dabeihat. «Man weiss ja nie, ob man was verpassen könnte», sagt er. Die Tagebücher füllen mittlerweile zwei Wandschränke. Nicht wenige Einträge handeln vom Höheacker-Quartier.
Zink zügelte mit seiner Familie November 1985 an den Terrassenweg. «Wir wohnten damals in Wichtrach, als wir im Amtsanzeiger das Wohnungsinserat sahen.» Die 5-Zimmer-Wohnung war doppelt so gross wie ihr bisheriges Zuhause, doch den Zuschlag bekam zunächst eine andere Familie. «Ein paar Wochen später sahen wir das gleiche Inserat nochmals.» Die Familie war abgesprungen, nun bekamen Zinks die Wohnung doch noch.
«Diese Wohnung war ein Traum», sagt Zink. Sie war gross, sonnig und bezahlbar. Von Anfang an gefiel ihm das Quartierleben. Er engagierte sich im Quartierverein, der regelmässig Anlässe durchführte und eine Zeitschrift herausgab. Sie hiess «Quartier-Zwitscher» – denn abgesehen vom Terrassenweg gaben hier Vögel den Strassen ihren Namen: Finken-, Amsel-, Falken-, Drossel-, Meisenweg. «Wir lebten in einem Dorf – mitten in Münsingen.»
Die gute Seele im Quartier
Bald war Sepp Zink die «gute Seele» im Quartier, der sich um die vielen Kinder kümmerte. Er spielte mit ihnen, fuhr sie mit dem Velo spazieren. Und nicht wenigen Kindern gab der ehemalige Berufsmusiker des Berner Stadttheaters Klavierunterricht. «Einmal machte ich draussen ein Foto mit 52 Kindern.» Er konnte sich nicht vorstellen, jemals an einem anderen Ort zu leben. «Es war so was von super hier.»
Doch vor ein paar Jahren, so erinnert er sich, habe es doch erste Anzeichen dafür gegeben, dass das Quartier eine Veränderung erfahren könnte. «Die Spielplätze wurden immer mehr vernachlässigt.» Und als einmal die Blöcke isoliert wurden, seien die Bauarbeiten in der Hälfte gestoppt worden. «Es hiess, das Geld sei ausgegangen. Aber ich bin sicher, dass damals schon klar war, dass die Blöcke abgerissen würden.»
Zweimal umgezogen
Im Februar 2016, nach dreissig Jahren in der gleichen Wohnung, verliess die Familie Zink den Höheacker und zog an den Stutzackerweg. Vor kurzem ist sie wieder gezügelt und hat im Schulhaus am Mittelweg eine Wohnung gefunden. «Jetzt sind wir dort sehr glücklich.» Doch sein altes Quartier vergisst er nicht.
Auf seinem letzten Rundgang durch die frühere Wohnung tritt Sepp Zink in die Küche. Der Kühlschrank steht offen, ist dreckig. «Bald ist das alles weg», sagt er. «Das ist doch wahnsinnig.» Dann lacht er laut.
Neue Überbauung
Die Münsinger Überbauung Höheacker besteht aus acht Blöcken mit 129 Wohnungen. Die unteren fünf Blöcke mit 66 Wohnungen wurden in den letzten Monaten saniert. Die oberen drei Blöcke mit 66 Wohnungen werden in diesen Tagen abgerissen. An ihrer Stelle entsteht eine neue Überbauung mit 81 Wohnungen. Neu heisst die Überbauung offiziell «Am Stutz». Eigentümerin ist die Berintra AG, die der UBS gehört. Sie investiert rund 38 Millionen Franken in die Sanierung und die Neubauten.
Von den sanierten Wohnungen sind gemäss Auskunft der UBS-Medienstelle 59 vermietet. 41 Mieter sind in den Wohnungen geblieben oder haben intern gewechselt, 8 haben von den Abrissbauten in die sanierten Wohnungen gewechselt. Die Mieten stiegen für eine 21/2Zimmer-Wohnung pro Monat um 450 Franken, für eine 51/2-Zimmer-Wohnung um 850 Franken. Die Abbruchwohnungen wurden bis Januar vermietet, die letzten Mieter zogen aber erst Ende März aus. Die neuen Wohnungen sind ab November 2018 bezugsbereit.
Erstellt:
05.04.2017
Geändert: 05.04.2017
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