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Münsingen - Er hätte das Kind sehen müssen

Quelle
Berner Zeitung BZ

Ein Autofahrer wurde gestern verurteilt. Er hatte vor drei Jahren ein Kind überfahren. Der Begleiter des Kinds wurde freigesprochen.

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Kerzen und Blumen erinnerten nach dem Unfall an das Unglück auf der Entsorgungsstelle. (Bild: Andreas Blatter, BZ)

Es war ein kleines Drama im einem grossen Drama gestern im Berner Amtshaus. Da wurde der Fall eines dreijährigen Buben verhandelt, der vor drei Jahren in Münsingen überfahren worden und gestorben war. Als kurz vor Mittag der Anwalt des angeklagten Autofahrers zum zweiten Mal das Wort bekam, brach er an seinem Rednerpult zusammen. Hektik brach aus im Gerichtssaal, die Ambulanz wurde gerufen, der Prozess unterbrochen. Nach 90 Minuten aber stand der Anwalt wieder am Pult und verteidigte seinen Klienten. Letztlich vergebens. Der Autofahrer wurde wegen vorsätzlicher Tötung zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagen à 40 Franken verurteilt. Die Probezeit beträgt zwei Jahre.

 

Fatale Sekunden

 

Der Unfall geschah im November 2010. Kurz vor Mittag spazierte ein Mann mit einem Buben zu einer Abfallsammelstelle. Unterwegs schnappte sich der Bub ein rotes Blatt eines Baums. Im Entsorgungshof entdeckte er eine Pfütze. Sie befand sich im Eingangsbereich, etwa vier Meter von der Strasse entfernt. Der Mann entfernte sich, entsorgte die Gläser – als er sich wieder dem Jungen zuwandte, erblickte er ein Auto. Er schrie und winkte dem Fahrer zu. Doch das Auto erwischte den Jungen mit dem rechten Vorderrad. Der Bub starb auf dem Weg ins Spital.

 

Der Mann ist nicht der Vater des verunglückten Jungen, sondern von dessen zwei Halbgeschwistern. Seit dem Unfall hat er keinen Kontakt mehr zur Mutter und zu seinen eigenen Kindern. «Ich wünschte mir Vergebung», sagte er. Auch er stand gestern wegen vorsätzlicher Tötung vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland. Aber er wurde freigesprochen. «Die Ereignisse passierten innert 20 oder 25 Sekunden», sagte die Richterin. Er habe den Jungen zwar in einem Gefahrenbereich zurückgelassen. «Aber wer mit kleinen Kindern unterwegs ist, hat immer ein Risiko.» In diesem Fall sei es ein zulässiges Risiko gewesen.

 

Den Blick in der Ferne

 

Anders der Autofahrer. «Er war einen kurzen Moment lang unaufmerksam», sagte die Richterin. Das genügte für den verheerenden Unfall und für die Strafe. Klar ist für das Gericht: Der Mann fuhr mit seinem Auto im Schritttempo in den Hof, der mit Thuja abgeschirmt ist. Es nieselte. Der Fahrer richtete den Blick nicht auf den Eingangsbereich, sondern in die Ferne, das hatte er selbst gesagt. Er suchte einen Parkplatz. Er hatte eine tiefe Sitzposition im Auto inne, wie immer, auch das hatte er gesagt. So war der tote Winkel grösser als normal. Darum, so das Gericht, konnte er nicht sehen, wie der knapp einen Meter grosse Bub zuerst bei der Pfütze kauerte oder sich bückte. Wie er dann aufstand und aufrecht vor dem Auto nach rechts lief. Nach etwa zwei Metern wurde er erfasst. Der Fahrer ist heute Rentner. «Hätte ich etwas anders machen können, hätte ich es sicher getan», sagte er gestern vor Gericht. Aber er leidet. Er hat der Mutter einen Brief geschrieben. «Es ist eine enorme Belastung.»

 

Siehe auch News BERN-OST vom 12.11.2010


Autor:in
Johannes Reichen, Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 11.12.2013
Geändert: 11.12.2013
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