• Kultur

Walkringen - Ein Kulturgut unterwegs ins Museum

Quelle
Berner Zeitung BZ

Wenn Sonja Rüfenacht «ds Gurrli fiegget», sagt sie niemandem gehörig die Meinung. Die Bäuerin veredelt Leinenschürzen und Fuhrmannsblusen. Das traditionelle Handwerk ist – wie die Redewendung – vom Aussterben bedroht.

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Am "Gurrli" fiegge": Sonja (links) und Martha Rüfenacht. (Bild: Hans Wüthrich)
«Ds Gurrli fiegge», «ds Möösch putze», «d Levite läse» oder «d Chappe schroote» sind mundartliche Redewendungen mit einem gemeinsamen Sinn: jemandem ordentlich die Meinung sagen. Die Bäuerin Sonja Rüfenacht aus Walkringen aber betreibt «Gurrli fieggen» als ursprüngliches Handwerk: Sie glanderiert – sie wachst Leinenschürzen mit einem alten Gerät wasserdicht ein.

Bevor sie die Leinenschürze mit dem «Gurrli», einer Vorrichtung mit senkrechtem Hebelarm und drehbarer Glasscheibe, bearbeiten kann, hat sie den Stoff gewaschen und mit Stärke behandelt. Kurz vor dem Trocknen hat sie die Schürze gefaltet und diese in Papier eingepackt zum Einwirken in den Keller gelegt. Später hat sie Bienenwachs zu handlichen Ballen geformt und damit die Vorderseite des Leinenstoffes eingerieben. Im Spycher wird dann das «Gurrli» in Betrieb genommen: Der fixierte Spannbalken unter der Decke überträgt die Kraft auf den beweglichen Hebelarm. An seinem unteren Ende ist die diskusförmige Glasscheibe befestigt. In einer abgerundeten Vertiefung im Tisch darunter liegt der flach gespannte Stoff. Hier wird nun das aufgetragene Wachs mit dem «Gurrli» in engen Bahnen in den Stoff eingearbeitet, bis die Schürze glänzt. Dazu steuert Rüfenacht den Hebelarm millimetergenau hin und her. Sie «fiegget ds Gurrli».

Eine Stunde pro Schürze

Das Glanderieren, wie der Vorgang in der Fachsprache heisst, dauert pro Schürze zehn Minuten. Er muss nach jedem Waschen wiederholt werden und kostet 25 Franken. «Mit den Vorbereitungen benötige ich pro Schürze ungefähr eine Stunde», sagt die Bauersfrau. Rund ein Dutzend Schürzen bearbeitet sie pro Jahr im Auftrag von Trachtenschneidern. «Mein grösster Auftrag der letzten Zeit waren Schürzen, welche im Kurszentrum Appenberg vom Servicepersonal getragen werden.»

Eine glanderierte traditionelle Trachtenweste weckte am Brockenhausstand an der «Brächete» in Zäziwil die Neugierde der Besucher. Die einen vermuteten, der Leinenstoff sei mit Kunstharz imprägniert, andere glaubten, eine neue Kunstfaser entdeckt zu haben. Nur wenige erinnerten sich noch daran, wie früher die Glätterinnen nebst ihrem Kerngeschäft auch Schürzen glanderiert und für die Trachten Faltenmäntelchen mit der «Gufferiermaschine» kunstvoll gefaltet haben. Beide Einrichtungen sind im Wäschezimmer des Dorfmuseums Alter Bären in Konolfingen, im Langnauer Chüechli-Huus und auf dem Ballenberg ausgestellt.

Dass das aussterbende Handwerk im Zeitalter von Plastik-Einwegschürzen überlebt hat, ist Rüfenachts Familientradition zu verdanken. Über Generationen haben die Bäuerinnen auf dem Hof ihren Schwiegertöchtern die Gerätschaft und das Können vererbt. «Es freut mich, dass meine Schwiegertochter Sonja in meine Fussstapfen getreten ist, auch wenn es sich heute wirtschaftlich kaum mehr lohnt», sagt Martha Rüfenacht, die ihrem «Sühniswyb» die Verantwortung fürs «Gurrli» anvertraut hat. Zu ihrer Zeit hat die Schwiegermutter mit Nähen und Glanderieren einen Zustupf in die Haushaltkasse beigesteuert.

Baumwolle statt Leinen

Heute ist Leinen von der Baumwolle als Textilfaser weitgehend abgelöst worden. Die einst verbreitete Leinenweberei im Emmental lebt insbesondere an der «Brächete» noch auf. Die Gerätschaften wie «Gurrli», Webstuhl oder Spinnrad sind im Museum ausgestellt. Das handwerkliche Können und Wissen um die alten Kulturtechniken gehört allerdings zum ideellen Kulturgut, das in Anker-Bildern oder Gotthelf-Büchern weiterlebt.

«Dass ‹ds Gurrli fiegge› heute eher im übertragenen Sinne und oft auch entfremdend verwendet wird, ist ein natürlicher sprachlicher Entwicklungsprozess», sagt Christian Schmutz von der Radio-DRS-Mundartsendung «Schnabelweid». Der Wortschatz passe sich dem alltäglichen Leben an. Neue Begriffe aus Beruf und Alltag hätten die damalige Lebenssituation und mit ihr die Sprache in die Geschichtsbücher und Museen verdrängt.

Autor:in
Markus Dähler / Berner Zeitung BZ
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Erstellt: 13.10.2010
Geändert: 13.10.2010
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