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Worb: Keine Rettung für die Kirchweg-Fichte

«Hallo liebe Worber, ich bin die Fichte am Kirchweg.» So fängt ein Brief an, den jemand auf Facebook gepostet hat. Diese Person plädiert im Namen der stattlichen Fichte dafür, sie doch bitte stehen zu lassen: «Ich gebe den Tieren Schutz.» Der Facebook-Brief hilft jedoch ebenso wenig wie der engagierte Einsatz von Fichten-Schützerin Desirée Bieri: Die Fichte stört den Nachbargarten. Sie kommt weg.

Mieterin Desirée Bieri vor der stattlichen Fichte am Kirchweg: «Im Sommer ist es darunter wunderbar kühl.» (Fotos: cw)
«Hallo liebe Worber. Ich bin die Fichte am Kirchweg.»
Desirée Bieri zeigt auf die ausladenden Äste der Fichte: «Ein willkommener Landeplatz für Zugvögel.»

Wahrscheinlich seit rund 70 oder 80 Jahren wächst die Fichte am Kirchweg 19 in Worb. Sie ist wohl um die zwanzig Meter hoch, ihre Spitze ist von der Redaktion aus über dem Dach des Gemeindehauses zu sehen. Jetzt sind ihre Tage gezählt: In der letzten Februarwoche soll sie gefällt werden. Der Grund: Sie beschattet den anliegenden Garten des Wohnhauses am Kirchweg 15 und bedeckt mit ihren Nadeln den Boden.

 

Schatten – des einen Leid, der anderen Freud

«Wir freuen uns, wenn die Fichte weg ist», frohlockt ein Bewohner aus Nummer 15, der nicht genannt sein will. Und seine Frau nickt bekräftigend: «Ja, wir wollen im Garten Gemüse anbauen, das geht jetzt nicht, alles ist voller Wurzeln und Fichtennadeln.» Das ist die eine Seite. Und sie ist verständlich. Tatsächlich sieht die schattige Gartenecke unter der Fichte nicht fruchtbar aus.

 

Auf der anderen Seite stehen die Vorteile eines Baumes, der einen stattlichen Stammumfang von rund 1.7 Metern hat und, ja genau, eben Schatten spendet. Das kann gleichzeitig auch ein Vorteil sein: «Im Sommer ist es unter der Fichte wunderbar kühl», sagt Desirée Bieri, Mieterin aus Nummer 19. Und auf den Balkonen ihres Hauses sei es an Sommertagen überhaupt erst auszuhalten, sobald die Fichte ihren natürlichen  Schatten darauf werfe. «Das ist wunderschön.»

 

Fürs Gärtnern nicht toll, für die Vögel umso mehr

Desirée Bieri ist gelernte Gärtnerin und kann kaum glauben, dass ein so stattlicher Baum einfach mir nichts, dir nichts gefällt werden darf, weil er auf einmal die Mieter:innen des Nachbarhauses stört. Sie hat sich deshalb bei BERN-OST gemeldet, um den Baum vielleicht zu retten – oder um wenigstens zu erreichen, dass er nicht einfach ohne jede Aufmerksamkeit gefällt wird.

 

Sie steht unter der imposanten Fichte und schaut über den Zaun auf den Nachbargarten. «Ich sehe, dass hier nicht viel wächst», räumt sie ein. «Aber vielleicht könnte man ja hier einen hübschen Gartensitzplatz einrichten?» Sie zeigt auf die ausladenden Äste und sagt, es gehe schliesslich nicht nur um die Menschen, denn die Fichte sei ökologisch wertvoll: «Im Frühling und Herbst ist dieser Baum ein sehr willkommener Landeplatz für Zugvögel – ganze Scharen lassen sich jeweils zum Ausruhen darauf nieder.»

 

«Ein Rückschnitt hätte nur dem Baum geschadet»

Jetzt, im Februar, ist noch nicht viel Leben in den Zweigen auszumachen. Aber schon ab März seien hier viele Vogelpaare am Nisten. «Ausserdem finden zahlreiche andere Kleinlebewesen auf und unter dem Baum Unterschlupf.» Desirée Bieri hat sich deshalb bei der Verwaltung ihres Hauses eingesetzt und gefragt, ob es keine andere Lösung gebe – einen Rückschnitt beispielsweise, statt gleich einer Fällung.

 

Das habe man tatsächlich versucht, teilt die zuständige Verwaltung auf Anfrage mit. Sie habe einen Baumspezialisten mit einem Gutachten beauftragt, und das Ergebnis sei enttäuschend gewesen: «Ein Rückschnitt hätte nur dem Baum geschadet und dem Nachbargarten nicht einmal viel genützt.» Das habe man dem Verwalter des Nachbarhauses so mitgeteilt.

 

«Fällen. Ohne Aufschub.»

Dieser, Inhaber einer Immobiliengesellschaft aus der Region, reagierte prompt und verlangte, unter diesen Umständen müsse die Fichte gefällt werden. Ohne Aufschub. Ansonsten drohte er mit rechtlichen Schritten und einem Rechtsstreit. Auf die Anfrage von BERN-OST, ob in dieser Sache kein Kompromiss möglich wäre, will er sich nicht äussern. Es sei alles geklärt, meint er, und droht auch der Redaktion mit Schwierigkeiten, sollte er namentlich zitiert werden.

 

Dementsprechend sind die in dieser Angelegenheit Beteiligten äusserst vorsichtig und wollen nicht mit Namen genannt werden. Auch nicht der Spezialist Baumpflege, der die Fichte fachmännisch untersucht und für «gesund und stabil» befunden hatte. Alle Namen sind jedoch der Redaktion bekannt.

 

Zwischen Häusern tatsächlich nicht ideal…

Immerhin so viel gibt der Baumspezialist preis: «Bei meiner Arbeit erlebe ich täglich, wie Menschen gegen die Natur ankämpfen und sie gemäss ihren Vorstellungen gestalten wollen.» Tatsächlich sei eine Fichte in einem Garten zwischen Wohnhäusern alles andere als ideal. Und dennoch werde er es bedauern, einen so stolzen Baum zu fällen, wenn er davorstehe. «Letztlich führe ich einfach einen Auftrag aus, wie in jedem Garten», sagt er dann.

 

Anwohnerin Desirée Bieri hingegen hatte gehofft, mit ihrem Einsatz die Fichte quasi in letzter Minute noch zu retten. Geholfen hätte beispielsweise, wenn die Fichte im «Zonenplan Landschaft» der Gemeinde Worb eingezeichnet wäre, als «Einzelbaum, der aus landschaftsästhetischen Gründen erhaltenswert ist».

 

….und auch nicht als erhaltenswert registriert

Gemäss diesem Plan dürfen Bäume, die «besonders wertvoll und standortgebunden» oder zumindest «wichtige landschaftsästhetische Objekte» sind, nur gefällt werden, wenn sie «für Mensch, Tier und Eigentum eine Gefährdung darstellen».

 

Das ist zwar bei der Fichte gemäss Gärtnergutachten nicht der Fall. Aber: Die Fichte ist auf dem grossen Plan in Silvia Bergers Büro auch nicht als erhaltenswert eingetragen. Berger ist Leiterin Planung und Umwelt bei der Gemeindeverwaltung und erklärt, dass es daher keinen Anlass gebe, die Fällung der Fichte amtlich zu verhindern – «auch wenn sie ökologisch wertvoll sein mag».

 

Und auch keine Fällbewilligung notwendig

In etlichen Gemeinden, beispielsweise in Bern, muss dennoch je nach Grösse und Stammdurchmesser ein Baumbeseitigungs-Gesuch gestellt werden. Und nach Ablauf einer bestimmten Frist ab Pflanzung des Baumes – je nach Gemeinde in der Regel nach plusminus zehn Jahren – ist auch eine Klage gar nicht mehr möglich.

 

In Worb gelten solche Bestimmungen nicht, und eine Fällbewilligung sei deshalb nicht notwendig, erklärt Gemeindepräsident Niklaus Gfeller. Einzig die Schutzzeit der nistenden Vögel zwischen 1. April und 15. Juli müsse eingehalten werden. «Ausserhalb dieser Schutzzeit können die Besitzer den Baum fällen lassen, wenn sie das wollen.»

 

«Rechtsstreit wo immer möglich vermeiden»

Von Wollen ist in diesem Fall weniger die Rede, eher von Müssen: «Ein Rechtsstreit würde uns enorm viel Zeit, Aufwand und Geld kosten», erklärt die Verwaltung von Haus Nummer 19, hinter dem die Fichte steht. «Wir verstehen das Bedauern der Mieterinnen und Mieter.»

 

Nachbarschaftsstreitigkeiten, in denen der Ton verhärtet und eine Schlichtung nicht wahrscheinlich sei, versuche man in der Immobilienbranche wo immer möglich zu vermeiden. Die Entscheidung der Eigentümerschaft zur Fällung der Fichte sei unter dem enormen Druck der Nachbarschaft erfolgt, heisst es nachdrücklich: «Ohne diesen Druck wäre das nie ein Thema gewesen.»

 

Auch der «Brief einer Fichte» hilft nichts

Da helfen auch die engagierten Mails nicht, die Desirée Bieri an die Verwaltung geschrieben hat. Und ebenso wenig der «Brief einer Fichte», den jemand anonym auf Facebook gepostet hat. 

 

«Hallo liebe Worber, ich bin die Fichte am Kirchweg», heisst es dort. Den Entscheid, sie gleich zu fällen, könne sie nur schwer nachvollziehen, «wo wir doch alle zu unserer Erde Sorge tragen müssen». So steht es im Brief, und: «Ich leiste meinen Beitrag zur Umwelt und gebe den Tieren Schutz.»

 

«Kein Ersatzbaum? Das geht gar nicht!»

Manchmal aber ist es der einzige Weg, dem Frieden zuliebe einzulenken. Das findet auch Desirée Bieri. Sie hat sich damit abgefunden, dass «ihre» Fichte gefällt wird. Die offizielle Ankündigung zum Beginn der Fäll-Arbeiten hat sie soeben erhalten. «Bin gerade etwas traurig», teilt sie mit.

 

Die neuste Nachricht der Hausverwaltung betrübt sie aufs Neue. Erst recht, weil sie kurz zuvor auf ihre Anfrage die Auskunft erhalten hatte, dass offenbar kein Ersatzbaum gepflanzt wird. «Das geht gar nicht», findet Bieri: «Der Natur wird ein Baum gestohlen und nicht einmal im Ansatz ersetzt.»

 

[i] Die Fichte wurde 2017 zum Baum des Jahres gewählt. Eine Fichte kann über 500 Jahre alt und 30 bis allerhöchstens 60 Meter hoch werden. Ihre volle Höhe hat sie jedoch im Alter von etwa 15 Jahren erreicht, danach wächst sie nur noch geringfügig in die Höhe. Die Fichte liefert wichtiges Raupenfutter für Schmetterlinge und Honigtau für Bienen. 10 bis 20 Prozent der Fichtensamen werden von Tieren, Pilzen oder Insekten als Nahrungsmittel benutzt, unter anderem vom Fichtenkreuzschnabel. Ausserdem gewährt die Fichte gemäss Waldwissen.net vielen Tieren, vor allem Vögeln, willkommene Gastfreundschaft, sei es als Nahrungsquelle oder zum Brüten.


Autor:in
Claudia Weiss, claudia.weiss@bern-ost.ch
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Erstellt: 24.02.2024
Geändert: 24.02.2024
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