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Worber Time-Out-Lehrer Michael Birnstiel: "Meine Schüler gehen oft ins Extreme"

Im Oberstufenzentrum Worbboden führt der Lehrer Michael Birnstiel eine Klasse für besondere Förderung, die sogenannte Time-Out-Klasse. Die Gemeinden Arni, Biglen, Landiswil, Grosshöchstetten, Schlosswil, Münsingen, Tägertschi, Trimstein, Bolligen, Stettlen und Vechigen schicken Schülerinnen und Schüler in diese Klasse, die in ihren normalen Klassen ein Time-Out benötigen. Bernhard Engler hat Lehrer Michael Birnstiel in der aktuellen "Worber Post" porträtiert.

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Steigt mit seinen Schülern nötigenfalls auch in den Boxring: Time-out-Lehrer Michael Birnstiel. (Bild: zvg)

"Eigentlich unterrichtete ich eine Kleinklasse. Doch dann beanspruchte ein Time-Out-Lehrer nach dem anderen selber ein Time-Out von seiner Time-Out-Klasse, und so wurde ich Time-Out-Lehrer. Jetzt unterrichte ich dort seit fast zehn Jahren.

Übrigens habe ich bis heute noch mit einigen Ex-Schülern Kontakt. Vor kurzem hat mir einer stolz berichtet, dass er sein eigenes Plattenlegergeschäft mit drei Angestellten führe. 'Sie wissen ja', sagte er mir, 'mit Vorgesetzten hatte ich immer Mühe, deswegen bin ich nun mein eigener Chef'.

Time-Out-Klassen sind für die Beruhigung einer Situation eingerichtet

Aber jetzt zu den Fakten: Time-Out-Klassen sind primär für die Beruhigung einer Situation eingerichtet, an denen nicht nur der betreffende Schüler, sondern vielleicht auch die Klasse und die Lehrperson leidet. Das Angebot gilt für Schüler vom 7. bis 9. Schuljahr. Die Klassengrösse variiert durchs Jahr hindurch, eine volle Klasse umfasst acht Schüler, was einer normalen Klasse mit fünfundzwanzig Schülern entspricht.

Naturgemäss beginnt ein Schuljahr eher ruhig, ab Februar bis zu den Sommerferien herrscht dann Rush-Hour. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer beträgt zehn bis zwölf Wochen, in drei bis vier Fällen kam jemand zurück. Aber ein Aufenthalt hier war noch nie erfolglos. Dass man in einer solchen Klasse eine gute Zeit verbringt, ist das Minimalziel und schon viel Wert.

"Zu meiner Schulzeit wäre ich Kandidat einer Time-Out-Klasse gewesen"

80 Prozent der Schüler sind Jungs. Die bewegen sich schneller ausserhalb der Regeln – die Mädchen gehen da anders vor und machen eher einen Schritt zurück, wenn sie an einer Grenze angekommen sind.

Falls es zu meiner Schulzeit eine Time-Out-Klasse gegeben hätte, wäre ich ein Kandidat gewesen. Ich war immer eher ein Macher – gab man mir Schaufel oder Besen in die Hand, erfreute ich mich über die rasch ersichtlichen Resultate meiner Arbeit. Beim Lernen war das leider nicht so, und mit fünf Geschwistern rundum, fand ich immer einer Lücke, mich Verpflichtungen zu entziehen.

"Was ein Kind braucht, sind Strukturen, klare Regeln"

Die Gründe, dass Schüler in meiner Klasse landen, sind so individuell wie sie selber. Mal spielt der Lebensabschnitt eine Rolle, mal die Verhältnisse daheim. Was aber bei allen der Fall ist: Sie stehen unter grossem Druck und sehen mehrheitlich nicht ein, dass sie selber das Problem einer Situation sein könnten.

Ein Konflikt, ob daheim oder in der Schule, äussert sich oft in Regeln und Abmachungen, die nicht eingehalten werden. Was ein Kind aber braucht, sind Strukturen, klare Bedingungen. Die gibt es in meinem Unterricht, selbst wenn sie sich von Schüler zu Schüler unterscheiden. Strukturen finden wir bereits in einer Mathematikaufgabe, und die Lösungsfindung kann dann sogar zuhause in einer Konfliktsituation helfen. Denn meine Schüler sind weissgott nicht dümmer als normale Schüler – von der Intelligenz her bewegen sie sich manchmal über dem Durchschnitt. Von ihrer Art gehen sie halt oft ins Extreme, man findet den grossen Aussenseiter genauso wie das ausgeprägte Alphatier.

"Sie sind wie welke Blumen, die wieder Farbe erhalten"

Was die meisten verbindet: Es fehlt jemand, der ihnen zuhört. Die Zuneigung fehlt ihnen, die Wertschätzung. Und so sehen Time-Out-Schüler ihre Zeit bei mir zuerst mal als Gang auf die Strafbank. Sie sind wie welke Blumen, aber bereits nach zwei bis drei Wochen erhalten sie wieder Farbe. Denn wenn man ihnen Anerkennung gibt und an ihrer Selbstwahrnehmung arbeitet, findet bereits eine grosse Beruhigung statt.

Im Zentrum steht dabei immer die Frage: Was kann ich gut? Wie wirke ich auf andere? Einem gewalttätigen Schüler musste ich mit einer ungewöhnlichen Massnahme vor Augen führen, was Gewalt heisst. Da ich meine persönlichen Time-Outs im Boxsport finde und in Bern beim Projekt "Boxen zur Bildung" mitverantwortlich bin, habe ich in der Klasse mal einen Boxring eingerichtet. Mit allem Drum und Dran, und alle in voller Montur. Die Mitschüler des Betreffenden hatten dann die Aufgabe, ihn mit Boxhieben und Schmähungen einzudecken.

Dem Problemschüler, einem 100 kg-Koloss, ging das schwer unter die Haut, doch viel später gestand er mir: 'Herr Birnstiel, nie me han ig däm eine ghoue'. Und von zahlreichen Schülern hörte ich am Schluss ihres Aufenthaltes in der Time-Out-Klasse: 'I möcht gärn no lenger blybe‘."


Autor:in
Bernhard Engler, "Worber Post"
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Erstellt: 30.11.2015
Geändert: 30.11.2015
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